Moral hat in der Tierbefreiungsbewegung einen besonderen Stellenwert. Die Tierbefreiungsbewegung artikuliert den moralischen Impuls, den Menschen verspüren können, wenn sie dem Leid anderer Tiere begegnen. Dieser mimetische Impuls, die Fähigkeit das Leid anderer nachzuempfinden, ist die Grundlage der Solidarität mit den Tieren. Dieser Impuls leitet jedoch nicht die Handlungen der Menschen an, vielmehr muss dieser in der gegenwärtigen Gesellschaft unterdrückt werden und kann somit nicht für die Befreiung von Mensch und Tier ausreichen.
„Einem jeden sind Situationen vertraut, die ihrem ganzen Wesen nach und ganz unabhängig von den Interessen des Subjekts eine bestimmte Richtlinie des Handelns vorschreiben – zum Beispiel ein Kind oder ein Tier in der Gefahr des Ertrinkens, eine hungernde Bevölkerung oder eine individuelle Krankheit. Jede dieser Situationen spricht sozusagen eine eigene Sprache. Da sie jedoch nur Ausschnitte der Wirklichkeit sind, ist es möglich, dass jede von ihnen vernachlässigt werden muss, weil es umfassendere Strukturen gibt, die ebenso unabhängig von persönlichen Wünschen und Interessen sind.“ (Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft)
Die Frage wie Tierausbeutung überwunden werden kann ist nicht sinnvoll zu beantworten, ohne die Frage anzugehen, auf was die gegenwärtige speziesiestische Praxis überhaupt beruht. Trotzdem ist es innerhalb der Tierbefreiungsbewegung keine Selbstverständlichkeit, die Frage nach den gesellschaftlichen und historischen Ursachen der Tierausbeutung aufzuwerfen.
Dies hängt unserer Meinung nach damit zusammen, dass immer noch ein grosser Teil der Tierbefreiungsbewegung sein Verständnis der Tierausbeutung auf Moralphilosophie stützt. Moralphilosophie beschäftigt sich mit dem „richtigen Leben“ des (menschlichen) Individuums. Ethik hat keinen Platz für Geschichte oder Gesellschaft, da sie kollektive Handlungen auf Individuelle reduziert. Sie kann folglich auch keine Erklärungsansätze für gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse bieten und trotzdem hat sich aus ihren Handlungsanweisungen eine Strategie der Tierbefreiungsbewegung entwickelt. Diese Strategie des Vegan Education hat zum Ziel, möglichst viele Menschen von einer ethischen Konsumweise, dem Veganismus, zu überzeugen.
We recognize that the most important step that any of us can take toward abolition is to adopt the vegan lifestyle and to educate others about veganism. (Gary Francione: The Six Principles of the Abolitionist Approach to Animal Rights)
Diese Strategie begreift Tierbefreiung als ein individuelles, moralisches Problem und Veganismus als Allheilmittel gegen die Tierausbeutung, wenn nicht gegen jegliche Ausbeutung überhaupt. Sie ignoriert, dass die individuellen Handlungsräume gesellschaftlich begrenzt sind und unsere Wahrnehmung von Tieren gesellschaftlich vermittelt ist. Der Kampf gegen Speziesismus ist nicht bloss der Kampf gegen eine Ideologie, sondern gegen ein Machtverhältnis.
Vegan Education degradiert Veganismus zu einer persönlichen Konsumentscheidung anstatt ihn als ein politisches Projekt der Versöhnung von Mensch und Natur zu begreifen. So führt diese Strategie lediglich zu einem veganen Nischenmarkt innerhalb des Kapitalismus. Es wird weder eine öffentliche Debatte geschaffen, noch politischen Forderungen gestellt. Veganismus als Lifestyle führt nicht zur Befreiung der Tiere, sondern zur Entpolitisierung der Thematik! Dies drückt sich auch in typischen Reaktionen auf Veganer_Innen aus:
Es gibt Leute die sind Moslems, einige mögen Volksmusik und wieder andere leben vegan. Alle haben das Recht zu sein und zu tun was sie wollen.
Die Ausbeutung anderer Individuen ist aber keine Frage der persönlichen Entscheidung. Darum ist es wichtig Tierausbeutung als politisches Problem zu verstehen, als ein Machtverhältnis, dass die Beherrschung der Natur, der Tiere und des Menschen einschliesst. Wir befinden uns heute in einer Situation, die historisch entstanden ist, geprägt durch ökonomische und kulturelle Vorgänge. Erst durch Analyse dieser Vorgänge kann Tierausbeutung adäquat bekämpft werden. In dieser Analyse muss der kritischen Soziologie einen wesentlichen Platz zugewiesen werden. Wenn die Befreiung der Tiere nicht ein blosser Traum bleiben soll, müssen wir begreifen, dass diese nur unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen erreicht werden kann. Die Gesellschaft muss also dahin transformiert werden, dass ökonomische Strukturen und unsere Abhängigkeit von ihnen nicht mehr die existenzielle Grundlage der Menschen bedrohen und die Möglichkeit sich vegan zu ernähren und sich mit Fragen der Befreiung der Tiere auseinanderzusetzen keine Fragen der Privilegien mehr sind. Diese Privilegien ergeben sich jedoch nicht nur aus finanziellen Möglichkeiten (Arbeit, gesellschaftliche Schicht, Familie etc.), sondern betreffen ebenso die kulturellen Ebenen. Dabei spielen die Einflüsse der Kulturindustrie und nicht zuletzt die der Bildungsmöglichkeiten eine entscheidende Rolle.
Die Forderung nach Tierrechten im Kapitalismus ist deshalb illusorisch, weil im Kapitalismus nur diejenigen Rechte haben, welche Eigentum besitzen. Die kapitalistische Gesellschaft richtet sich genauso wenig nach den ethischen Denkgebäuden von Philosophen, wie sie sich nach moralischen Impulsen richtet. Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist die Vermehrung von Wert. Hinter der Tierausbeutung stehen ökonomische Interessen, welche gesellschaftlich rationalisiert werden. Speziesismus ist nicht bloss ein ethischer Denkfehler, sonder beruht auf materiellen Interessen.
„Wir beuten Tiere nicht aus, weil wir sie für niedriger halten, sondern wir halten Tiere für niedriger, weil wir sie ausbeuten.“ (Marco Maurizi, Interview mit der Tierrechtsgruppe Zürich)
Die in der Tierbefreiungsbewegung populären Moralphilosophien verstehen unter Speziesismus die höhere Bewertung der Interessen von Menschen gegenüber denjenigen von Tieren, weil Tiere nicht als vollständige Mitglieder der moralischen Gemeinschaft angesehen werden. Dieses ideologische Verständnis von Speziesismus ist jedoch irreführend. Das Interesse an der Tierausbeutung wird einfach vorausgesetzt und nicht historisch und gesellschaftlich begriffen. Somit erscheint diese als Interesse und Vorteil der gesamten Menschheit und nicht als ökonomisches Interesse einer bestimmten Klasse. Ein solches Verständnis von Speziesismus führt somit in die Sackgasse, dass sich die Veganer_Innen in einem Kampf gegen die ganze Menschheit gegenüberstehen. Wird Speziesismus allein vom Individuum her begriffen kommt man schnell zur Diagnose, dass ein Grossteil der Menschen einfach zu dumm für eine vegane Gesellschaft ist und das Projekt der Tierbefreiung kann für gescheitert erklärt werden. Erst durch ein materielles Verständnis von Speziesismus wird begreiflich, dass die Ausbeutung von Menschen und die Ausbeutung von Tieren zusammenhängt.
Die Freiheit des (menschlichen) Individuums war das Ziel der bürgerlichen Beseitigung der Vorherrschaft der Kirche und des absoluten Staates. Seine Sehnsucht nach persönlicher Freiheit liess „den Bürger“ im Namen der (ökonomischen) Liberalisierung immer mehr Fesseln sprengen. Der Angriff gegen die offensichtliche äussere Macht durch die totalitären Institutionen schlug aber massiv zurück und die moderne Zeit zeigt ihre Fratze in einer anderen Form der Autorität. Die Domestizierung unser selbst durch die moderne bürgerliche Kultur entpuppt sich als scheinbar auswegloses Dilemma:
„Naturbeherrschung schliesst Menschenbeherrschung mit ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äusseren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muss, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen.“ (Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft)
Seit Anbeginn der Zivilisation ist die Beherrschung der Natur von der Beherrschung des Menschen nicht zu trennen. Darum muss die Tierbefreiungsbewegung gegen die gegenwärtige Ausbeutung des Menschen kämpfen. Um eine gerechte Produktion verwirklichen zu können muss der Mensch sich zuerst einmal ermächtigen, „Herr“ über die gesellschaftliche Produktion zu werden. Die Tierbefreiungsbewegung muss sich gegen das System stellen, welches die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur bedingt und gegen diejenigen angehen, welche von dieser Ausbeutung profitieren. Dies bedeutet beispielsweise gegen Schlachthöfe, Vivisektionslabore oder Zirkusse mit Tieren zu kämpfen, anstatt sich in seinem Lifestyle auszuruhen, in welchem man „richtig“ konsumiert und andere von diesem Konsum überzeugen will. Dieser Kampf muss weiter jegliche Art von Ausbeutung und Barbarei zum Ziel haben. Verschärfungen im Asylwesen, Verschulung im Bildungswesen, Sozialabbau, sexistische und homophobe Hetze, usw. verhindern genauso wie die Beherrschung der Natur, dass Bedingungen für ein vernünftiges Zusammenleben geschaffen werden. Tierbefreiung kann somit nur als Emanzipationsbewegung des Menschen verstanden werden, welche mit der Befreiung des Menschen die Tiere mitbefreit.