Ukrainischer Staatsterrorismus

Quelle: https://www.jungewelt.de/2015/08-17/024.php

Vorwiegend nachts Wohnviertel beschießen und für Hunger sorgen. Zur Kriegführung Kiews im Donbass

An diesem Wochenende haben die Behörden der international nicht anerkannten »Volksrepublik Donezk« eine Bilanz der Opfer des Krieges seit Jahresbeginn veröffentlicht. Sie kamen auf 1.287 Tote und etwa 1.100 Verletzte. Da unter den Toten 1.088 Männer gewesen sein sollen, ist zu vermuten, dass auch Kämpfer der Volksmilizen mitgezählt wurden. Geht man aber davon aus, dass 200 Todesopfer Frauen waren, dann sind wahrscheinlich um die 400 der Opfer gleichwohl Zivilisten, viele davon Kinder. Nach Angaben der Donezker Behörden geht die Zahl der Toten und Verletzten in letzter Zeit zurück, obwohl die Intensität des ukrainischen Beschusses zunehme. Das liege daran, dass die Schutzräume in den Häusern ausgebaut worden seien und die Bewohner inzwischen besser als zu Beginn des Krieges wüssten, wie sie sich im Fall eines Angriffs verhalten müssten.

Die Sachschäden, die der ukrainische Beschuss verursacht, sind nach wie vor erheblich. Fast in jedem ihrer alle zwei Tage veröffentlichten Rechenschaftsberichte schreibt die OSZE-Beobachtungsmission davon, dass sie irgendwo eine kurze Waffenruhe zur Reparatur von Wasserleitungen oder Trafostationen vermittele. Nicht selten erwischt es dieselbe Anlage in der Nacht darauf von neuem. Die Strategie der Kiewer Streitkräfte gegenüber den Volksrepubliken setzt offenkundig darauf, den Donbass unbewohnbar zu machen. Womöglich ist dies übrigens der Grund, warum die ukrainische Führung sich beharrlich weigert, die Auseinandersetzung im Osten des Landes als Krieg zu definieren, sondern von einer »Antiterroroperation« schwafelt. Der Krieg ist nämlich völkerrechtlich geregelt, was Kiew unangenehmen Nachfragen aussetzen könnte; bei der »Terrorbekämpfung« ist dagegen alles erlaubt, auch Staatsterrorismus.

Es stimmt, der Waffenstillstand wird von beiden Seiten nicht eingehalten. Der Unterschied besteht darin, dass die Aufständischen in aller Regel ukrainische Militärstellungen ins Fadenkreuz nehmen. Über getötete Zivilisten auf eigener Seite berichten selbst die Kiewer Medien kaum. Das hat seine Logik: Die Kiewer Militärs sind auch in dem Teil des Donbass, den sie kontrollieren, als Besatzer verhasst, Disziplinlosigkeiten der Truppe tragen zum negativen Erscheinungsbild bei. Die Sympathisanten auf der anderen Seite der Front sind für die Volksrepubliken wichtige Informationsquellen über ukrainische Truppenbewegungen. Die Ukraine dagegen bombardiert systematisch Wohnsiedlungen und lebenswichtige Infrastruktur, riskiert Umweltschäden wie bei der Zerstörung von Chemikalienlagern. Der ukrainische Beschuss findet nach auch aus Kiew nicht dementierten Mitteilungen der Stadtverwaltungen des Donbass so gut wie ausschließlich in den Abend- und Nachtstunden statt, zwischen 20 und sechs Uhr. Das entzieht Erklärungen wie der von zufällig irgendwo einschlagenden Granaten die Grundlage, denn es bedeutet: Man will auf ukrainischer Seite nicht nur die Wohnungen treffen, sondern auch ihre Bewohner. Sie sollen im Einzelfall obdachlos gemacht, getötet oder verletzt, insgesamt aber eingeschüchtert und zur Flucht aus der Region genötigt werden. Dem dient es auch, wenn ukrainisches Militär und »Freiwillige« Lieferungen von Trockenobst, Käse und Zucker beschlagnahmen, die über Feldwege durch die Front geschmuggelt werden sollten. Hunger wirkt immer. Ukrainische Politiker nennen offen die kroatische Operation »Oluja« (Sturm) vom Sommer 1995 als Vorbild für ihre Kriegführung. Damals hatte das kroatische Militär durch Terrorangriffe auf serbische Dörfer in der Region Krajina eine Massenflucht der Zivilbevölkerung ausgelöst und im Ergebnis ein von den Bewohnern verlassenes Territorium erobert.

Die Geschichte kennt ein weiteres Beispiel solchen »Moral bombings«. Es ist allerdings, gemessen an seinen Zielsetzungen, gescheitert. Im Zweiten Weltkrieg bestand zwischen den USA und Großbritannien die Arbeitsteilung, dass die USA tagsüber Industriebetriebe und Infrastruktur Nazideutschlands bombardierten, die Briten nachts die Wohnviertel deutscher Städte. Luftmarschall Arthur Harris versprach sich davon, dass die deutsche Zivilbevölkerung dem Regime die Gefolgschaft aufkündigen werde. Das Gegenteil trat ein. Die Angriffe auf die Wohnviertel boten dem Naziregime die Gelegenheit, sich als Helfer in der Not zu inszenieren, und sie sorgten politisch dafür, dass die Mehrheit der Deutschen bis zum Schluss hinter dem Regime stand. Die Reaktion der Bevölkerung im Donbass ist heute – bei allem Unterschied in der Gesamtsituation – ähnlich. Der ukrainische Terror stärkt offenbar die Wut der Bewohner und bewirkt gerade keinen Defätismus. Gut möglich, dass inzwischen »Minsk« nicht zuletzt gegen sie durchgesetzt werden müsste.

Die ukrainische Publizistik gibt offen zu, dass das Land in seiner gegenwärtigen Verfassung mit den Menschen des Donbass nichts anfangen kann. Das »proukrainische« Fünftel ist längst geflohen; die übrigen 80 Prozent werden als »Watteköpfe« verhöhnt und gelten als unbelehrbar und nicht zu integrieren; es gibt Forderungen der von Kiew eingesetzten Regionalchefs, sogar die Kommunalwahlen im Oktober in den ukrainisch kontrollierten Teilen des Donbass abzusagen, weil ohnehin die Falschen gewinnen würden. Kiew setzt auf die Vertreibung der unbotmäßigen Bevölkerung aus dem Donbass oder auf Schlimmeres. Im US- und EU-finanzierten Fernsehkanal Hromadske TV durfte schon vor einem Jahr ein selbsternannter Experte ausrechnen, dass mindestens 1,5 Millionen Donbass-Bewohner ohnehin überflüssig seien und deshalb verschwinden müssten.

Präsident Petro Poroschenko behauptet bei jeder Gelegenheit, alle Probleme würden enden, sobald die Ukraine wieder ihre Grenze zu Russland vollständig kontrollieren würde. Die Ukrainer würden sich untereinander immer einigen. Erhebliche Zweifel sind angebracht. Hätte der Donbass nicht Russland als Lebensader und zumindest faktische Garantiemacht – es wäre nicht auszudenken, was die Kiewer Schreibtischtäter und ihre Exekutoren aus den Faschistenbataillonen dort anstellen würden.