Quelle: https://www.jungewelt.de/2015/08-24/031.php
Waffenruhe von Minsk ist weiterhin brüchig. Die Einsatzkräfte der »Volksrepublik« gehen von einer baldigen Eskalation aus.
In Donezk ist ein bisschen Normalität eingekehrt. Viele Checkpoints in der Innenstadt wurden abgebaut. Einige Cafés sind geöffnet. Besucher schlendern in der spätsommerlichen Nachmittagssonne durch einen kleinen Bazar.
Aber allein das Angebot erinnert daran, dass die »Volksrepublik Donezk« (DNR) sich weiterhin in einem Ausnahmezustand befindet. Springerstiefel, Pistolenholster, Militärabzeichen, T-Shirts mit pathetischen Durchhalteparolen und Konterfeis von Heroen aus der Sowjetära – an den Ständen gibt es außer Schusswaffen alles, was für den Fronteinsatz und die Stärkung der Kampfmoral gebraucht wird.
Dass Regierungsbeamte mit Revolvergurt und Kalaschnikow im Kofferraum unterwegs sind, gilt als selbstverständlich. Die Angst vor ukrainischen Diversionstrupps, Saboteuren und Anschlägen ist groß in diesen Tagen. Und spätestens der vereinzelte nächtliche Artillerielärm erinnert daran, dass das Abkommen von Minsk nicht mehr eingehalten wird.
Nach dem Feuerhagel auf Donezk und andere Orte in der vergangenen Woche habe sich die Lage wieder »mehr oder weniger stabilisiert«, sagt Katerina Katina, Nachrichtenchefin der regierungsnahen Donbass News Agency, die im Juli gegründet worden ist. Aber Verbände der ukrainischen Armee bewegten sich mit Panzern und schwerer Artillerie in Richtung Kontaktlinie, so Katina mit Verweis auf den aktuellen Lagebericht des DNR-Verteidigungsministeriums.
Der Beginn eines Großangriffs sei nur eine Frage der Zeit. »Nach unseren Erkenntnissen gibt es einen Plan, Donezk von Norden aus mit Truppen aus Awdijiwka und von Süden aus mit Kräften aus Dokutschajewsk einzukesseln und die Verbindung zur russischen Grenze zu kappen.« Es wird befürchtet, dass die Offensive heute, am 24. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine, oder in einigen Tagen starten wird. »Die Situation ist sehr angespannt – alle warten.«
Entsprechend nervös agieren die Soldaten an den Grenzkontrollposten, an denen rund um die Uhr endlose Autoschlangen stehen. Eine Fahrt von Rostow am Don nach Donezk, rund 200 Kilometer, dauert zwischen sieben und zwölf Stunden. Sie hätten Anweisung, Einreisende mit ausländischen Pässen besonders streng in Augenschein zu nehmen. Vor allem wenn sie aus Deutschland kämen, erklärt ein Offizier der Volksmilizen am Grenzübergang Kuibyschew und ergänzt: »Für all das hier können wir uns bei Gorbatschow bedanken.« Hinter der Grenze geht es vorbei an Ortschaften mit unzähligen zerschossenen Häusern, wie Snischne und Tores, die vergangenes Jahr heftig umkämpft waren.
Unter dem andauernden Krieg leidet nicht zuletzt die Landwirtschaft. »30.000 Hektar Land – das ist ein Sechstel unserer Agrarfläche – können nicht genutzt werden, weil sie Kampfgebiet oder vermint sind«, berichtet Maxim Sawenko im Gespräch mit junge Welt. Knapp die Hälfte der Erntemaschinen sei zerstört oder nach Westen abtransportiert worden. »Die ukrainischen Truppen schießen immer wieder ausgetrocknete Felder in Brand.« Die Einfuhr von Lebensmitteln aus dem Westen in die DNR, so Sawenko, werde erheblich verteuert durch Freiwilligenbataillone, über die Kiew keine Kontrolle mehr habe und die sich als Wegelagerer durch illegal erhobene Zölle bereichern würden.
Derweil bereiten sich die Streitkräfte der DNR auf die nächste Eskalation vor. »Wir waren trotz offiziellen Waffenstillstands gezwungen, ohne nennenswerte Unterbrechung weiterzukämpfen – mit Verlusten auf beiden Seiten«, berichtet Abchas, Kommandeur der Interbrigade, die an fast allen Brennpunkten im Einsatz war. Seine Einheit müsse zur Zeit nördlich von Donezk einen großen Frontabschnitt mit einer Länge von elf Kilometern halten. Es komme jetzt darauf an, sich nicht von politischen Taktierereien verunsichern zu lassen, meint Abchas. Seine Devise: »Keinen Schritt zurück, sondern zwei Schritte vorwärts. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«