Nichts wird mehr verachtet als das ›Linke‹

Quelle: http://www.jungewelt.de/2015/11-03/001.php

Über die Geschichtsklitterungen des israelischen Ministerpräsidenten, wachsende Ressentiments, Antiaufklärung und einen möglichen Paradigmenwechsel in den politischen Kulturen Deutschlands und Israels. Ein Gespräch mit Moshe Zuckermann

Interview: Susann Witt-Stahl

Von Benjamin Netanjahu haben wir erfahren, dass Hitler nur ein williger Helfer des Großmuftis von Jerusalem, Mohammed Amin Al-Husseini, war, der den Holocaust an den Juden eigentlich gar nicht wollte, sondern sich 1941 von einem politisch-religiösen Oberhaupt der Palästinenser aufschwatzen lassen hatte. Sollte Israel jetzt Zahlungen zur »Wiedergutmachung« von der palästinensischen Regierung eintreiben?

Sie stellen die Frage in sarkastischem Ton. Aber was Netanjahu gemacht hat, übertrifft alles, was wir in Israel bis jetzt an Instrumentalisierung der Shoah-Erinnerung gekannt haben. Es ist kein Geheimnis, dass Israels politische Kultur das Shoah-Andenken immer schon für fremdbestimmte ideologische Zwecke vereinnahmt hat, mithin damit einen Verrat an den Opfern des Völkermords begangen hat. Man kannte auch die Auswechselbarkeit der Nazis in dieser politischen Kultur – mal waren es »die Polen«, immer schon auch »die Palästinenser«. Aber so weit zu gehen, Hitler zu »entlasten«, um den Palästinenserführer Mahmud Abbas und mit ihm das gesamte palästinensische Volk in den Nazismus-Verruf zu bringen, das hat sich bis jetzt noch niemand getraut. Entsetzlich dabei ist nicht nur die Unverfrorenheit der historischen Lüge Netanjahus – der Mann lügt ja immer –, sondern dass er mit dieser Ungeheuerlichkeit politisch auch punkten könnte.

Wie ist es möglich, dass der Regierungschef Israels ausgerechnet mit der Entlastung des Diktators, der für das bislang größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte – begangen an den europäischen Juden – verantwortlich zeichnet, im Judenstaat »politisch punkten« kann?

Was ihn selbst anbelangt, so ist die Antwort einfach: Er ist perfide, und nichts ist ihm in seiner Karriere wichtiger als der Machterhalt. Es ist nicht das erste Mal, dass er zu diesem Zweck Lügen und Verleumdungen einsetzt. Dass er damit Erfolg hat, erklärt sich aus dem seit jeher ideologisierten Shoah-Andenken. Zudem gibt es seit 15 Jahren einen immensen Rechtsruck in der israelischen Öffentlichkeit. Dieser Rechtsruck hat mancherlei Tabus gebrochen – sowohl was die Form als auch die Inhalte zynischer Polemik, rassistischer Praxis und Nazifizierung von Feinden anbelangt. Der Holocaust als das, was er menschheitsgeschichtlich gewesen ist, hat die allermeisten Israelis nie interessiert. Deshalb konnte man stets über ihn heteronom verfügen.

War das ein Zustand temporärer geistiger Umnachtung, der Netanjahu diese ungeheuerliche Behauptung aufstellen ließ, die er nun ohne Gesichtsverlust nicht revidieren kann. Oder war es Kalkül?

Das war Kalkül. Ganz eindeutig. Das war ja keine spontane, frei gehaltene Rede; die unglaublichen Sätze standen auf dem Papier, lange bevor sie öffentlich vorgetragen wurden. Israel befindet sich im Hinblick auf sein Ansehen in der Weltöffentlichkeit in einer ziemlich argen Lage. Netanjahu wollte mit seiner verrückt anmutenden Geschichtsklitterung die Unterdrückung der Palästinenser rechtfertigen und Schuldumkehr betreiben. In seinem »diplomatischen« Kalkül brächte so etwas Pluspunkte für die Legitimierung der israelischen Politik.

Ein Zufall, dass Netanjahu diese Karte in Tagen spielt, in denen die Drangsalierung der arabischen Bevölkerung auf die Spitze getrieben wird, eine dritte Intifada droht und jüdische Rechte Lynchjustiz an jedem üben, der ins intensiv gepflegte rassistische Feindschema passt?

Überhaupt kein Zufall. Aber das war schon immer so: Je mehr die selbstverschuldete Bedrohung »von außen« anwächst, desto gezielter gilt es, die innere Kohäsion durch Dämonisierung der Bedrohungsquelle zu garantieren. Für dieses Ziel ist jedes Mittel recht, wenngleich diesmal eine Grenze überschritten wurde. Wie gesagt, eine solche Dimen­sion der Instrumentalisierung des Shoah-Andenkens kannten wir hier bisher noch nicht.

Der Historiker Moshe Zimmermann kommentierte, Netanjahu finde sich mit seiner Aussage »in einer langen Reihe von Holocaust-Leugnern ein«. Stimmen Sie ihm zu? Ist damit die Quantität des Missbrauchs des Shoah-Gedenkens als ideologische Waffe in eine neue Qualität getrieben worden?

Ja, ich stimme Moshe Zimmermann absolut zu. Die Frage dabei ist nicht, ob Netanjahu bestrebt ist, den Holocaust zu leugnen – natürlich will er nicht den Holocaust leugnen −, sondern ob sich seine Aussagen in eine rhetorische Praxis einreihen, die von gestandenen Holocaust-Leugnern instrumentalisiert werden kann. Denn darum geht es oft bei historischen Debatten: Wie demontiere ich konsensuelles Wissen so, dass das schiere historische Ereignis in Frage gestellt werden kann. Bedenkt man zudem, von welchem politischen Interesse Netanjahu bei seiner ungeheuerlichen Aussage angetrieben war (und ist), ermisst man erst, wie perfide sein Diktum war.

Einige israelische Wissenschaftler und Intellektuelle haben Netanjahus Geschichtsklitterung widersprochen. Aber wie ist es um den Rest der Gesellschaft bestellt? Im »Land der Holocaust-Überlebenden«, wie es staatsoffiziell heißt, müsste das doch einen Tsunami der Entrüstung ausgelöst haben?

Ach was, davon kann nicht die Rede sein. Die Wissenschaftler interessieren Netanjahu gar nicht; sie gehören für ihn zu den »alten Eliten«, die er schon seit Jahren stürzen will. Es passt ihm durchaus in den Kram, dass sie sich echauffieren. Natürlich musste er ein wenig zurückrudern, als er die harsche Kritik an seinen Worten wahrnahm, aber er wusste genau, dass zwei Tage später niemand mehr ernsthaft darüber reden würde. Er nahm die Reaktion in Kauf, weil er sicher war, dass er die öffentliche Meinung auf seiner Seite haben würde. Und es ist in der Tat verblüffend, wieviel Unterstützer er in den sozialen Netzwerken hat. Diese haben nämlich kein Problem mit dem inhaltlichen Mist, den Netanjahu von sich gegeben hat, sondern reagieren vor allem auf die gegen diesen Mist geübte Kritik, die sie primär als Kritik von »Linken« deuten. Und nichts wird in der hiesigen Politkultur gegenwärtig mehr verachtet als das »Linke«. Netanjahu wusste, dass er im eigenen Land darauf wird zählen dürfen.

Was genau sind das für Kreise, die eine derart drastische Fälschung der Geschichte des Holocausts lautstark unterstützen?

Präzise lässt sich das nicht ermitteln. Aber zweifellos sind es zunächst viele Likud-Anhänger, die in Netanjahu den (politischen) »Zauberer« erblicken und sich mit ihm automatisch solidarisieren. Mit dabei werden auch viele Nationalreligiöse und Siedler sein, denen jeder gegen die Palästinenser gerichtete politisch-ideologische Akt nur recht sein kann. Aber ich stelle mir vor, dass es auch viele andere – ignorante – Israelis gibt, die Netanjahus Aussage goutieren, weil ihnen die Palästinenser (und Araber überhaupt) längst schon als ausgemachte Nazis gelten. Die geschichtliche Wahrheit interessiert sie bei ihrer primitiven Freund-Feind-Matrix herzlich wenig.

Auch von den Autoritäten der israelischen Shoah-Erinnerungskultur ist offenbar kein nennenswerter Einspruch zu erwarten. Dina Porat, Chefhistorikerin von Yad Vashem, eine staatsfromme Zionistin, äußerte zwar Unverständnis, nahm ihren Ministerpräsidenten aber sogleich wieder in Schutz: Er habe die »Kontinuität des arabischen Hasses gegen Juden« aufzeigen wollen, der auch religiös motiviert sei, nicht erst seit Beginn der Besatzung tobe und sich gegenwärtig in der »wüsten Hetze der Palästinenserbehörde gegen Israel« entlade.

Ach, Dina Porat − sie ist zwar eine anerkannte solide Historikerin, aber, wie Sie richtig bemerken, auch ein Teil eines regierungshörigen Establishments, das sich nicht so schnell gegen Israels staatsoffizielle Vertreter äußern wird. Wenn sie besagte »Kontinuität des arabischen Hasses gegen Juden« hervorhebt, ist das ein Paradebeispiel für die Art und Weise, wie sie und ihresgleichen argumentieren: Nie würden sie sich einfallen lassen, über den Kontext besagten »arabischen Hasses« zu reflektieren, gar einen Kausalzusammenhang zwischen diesem Hass und dem (historischen und aktuellen) Verhalten Israels den Arabern gegenüber bedenken zu wollen. Für diese Leute ist der Hass im luftleeren Raum entstanden, und israelische Juden haben mit seiner Entstehung nichts zu tun. Aber es ist auch klar, warum dem so ist: Dina Porat ist die prominenteste israelische »Spezialistin« für den Antisemitismus. Mit genuiner Antisemitismus-Forschung hat aber das, was sie seit Jahrzehnten betreibt, rein gar nichts zu tun.

Welche sind Ihre wesentlichen Kritikpunkte an der Antisemitismusforschung von Porat und anderen nationalistischen Historikern? Worin besteht der fundamentale Unterschied zur historisch-materialistischen Antisemitismusforschung, die Sie betreiben?

Bei Porats Arbeit handelt es sich lediglich um die alljährliche statistische Erfassung von antisemitischen Vorfällen in der Welt, also um eine schlichte Bestandsaufnahme. An keiner Stelle werden sozial- oder kulturwissenschaftliche Kategorien zu Ergründung der aufgelisteten Erscheinungen aufgeboten. Man denke etwa im Kontrast dazu an Adornos und Horkheimers zivilisationskritische und freudomarxistische Analyse »Elemente des Antisemitismus«, in welcher u. a. die je eigentümliche Ausgrenzung der Juden im Liberalismus und Faschismus, ihre ideologische Zurichtung zum Sinnbild des Kapitalismus (das säkular gewendete religiöse Element des Judenhasses), die vom Antisemiten praktizierte Projektion der Verwerfungen der Kapitalbesitzer auf »die Juden« und der militante Antisemitismus als notwendig falsches Bewusstsein der brutalsten Form bürgerlicher Herrschaft und Ventil verblendeter Massen verhandelt werden. Von alledem weiß die in Israel hegemoniale Antisemitismusforschung herzlich wenig.

Historiker, wie Gilbert Achcar mit seiner Studie »Die Araber und der Holocaust«, haben längst bewiesen, dass der von der britischen Mandatsmacht eingesetzte Großmufti von Jerusalem zwar ein Judenhasser und Hitler-Verbündeter war, aber keinen Einfluss auf die Politik von Nazideutschland und im arabischen Lager wenig Rückhalt genossen hatte. Die große Mehrheit der Palästinenser war nicht für die Naziideologie zu begeistern − nicht zuletzt deshalb, weil deren Rassenlehren auch gegen die arabische Bevölkerung gerichtet waren. Nach der Wannseekonferenz hatte die palästinensische Wochenzeitung Al-Akhbar Hitler als »größten Feind der Menschheit« ausgerufen. Dennoch hat der Mythos von der »palästinensischen Volksgemeinschaft« nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland Hochkonjunktur.

Das gilt nur für die, die islamophob, araber- und palästinenserfeindlich ausgerichtet sind. Für sie, wie eben auch für Netanjahu und seinen ideologischen Weggefährten in Israel ist der Großmufti ein gefundenes Fressen. Da ist ein palästinensischer Araber, der in die Nähe Hitlers, mithin in die Nähe des Holocaust gerückt werden kann – somit kann man alle Palästinenser und deren politische Bestrebungen und gegebenenfalls auch den Islam in seinem Wesen delegitimieren bzw. so in Verruf bringen, dass rationale Analysen, historische Wahrheit und redliche Erkenntnis hinweggefegt werden können. Nicht zuletzt dient dies dazu, geopolitische Zusammenhänge, geschichtliche Kontexte und Verbrechen, der Kolonialmächte beispielsweise, zu vertuschen bzw. ganz aus dem Bewusstsein geraten zu lassen. Der Großmufti, der im übrigen in der Tat ein widerlicher Antisemit und Hitler-Kollaborateur war, ist hierfür in höchstem Maße als ein Instrument geeignet.

Die Ideologeme des Großmufti als pars pro toto für alle Araber und der Umma, besonders der Palästinenser als die »Nazis von heute«, sind im Wissenschaftsbetrieb wie im gehobenen Politdiskurs fest etabliert. Das Gros der organisierten deutschen Israel-Solidarisierer nährt sich politisch davon. Kein geringer Teil diskreditiert gleichzeitig die jüdische Linke als »antisemitische Juden«. Wie konnten solche Kräfte Legion werden?

Ich glaube, das hat primär mit dem Verdorren der westlichen Linken im Zuge des Sieges des Neoliberalismus zu tun. Als historischen Wendepunkt mag man da den Zusammenbruch des Sowjetkommunismus nehmen. Was die Israel-Solidarisierer anbelangt, liegt für mich die Sache ziemlich klar: Gerade weil das linke Emanzipationsparadigma nach und nach degenerierte, nahm man sich der Lehre vom Geschichtsereignis Auschwitz an: »Juden« wurden sehr bald zur identifikatorischen Projektionsfläche. Alles andere ergab sich von selbst – Juden und Israel bzw. Zionismus wurden gleichgestellt und entsprechend Israels Feinde, die Palästinenser bzw. israelkritische Juden, als Antisemiten apostrophiert. Von dieser Gesinnung ist offenbar auch die Wissenschaft nicht ausgenommen.

Zu dieser Praxis gehört auch die Theorie einer heimlichen Allianz des gemeinen Moslem von nebenan mit den gern als Widergänger der SS apostrophieren Islamisten, die »die Verachtung des menschlichen Lebens« noch »weniger verwundbar macht als den germanischen Siegfried das Bad im Drachenblut«, wie der Herausgeber des Magazins Konkret meint. »Millionen Muslime, die ihren Wohnsitz in Westeuropa und Nordamerika haben, betrachten das Tun ihrer Brüder nicht ohne Zuneigung«, schrieb Hermann Gremliza 2004 und dokumentiert damit, dass Strömungen in der deutschen Linken schon lange ein Teil des Problems sind. Sein Fazit: »Diese islamistische Internationale ist die größte Gefahr, die den Siegern aller bisherigen Geschichte droht.«

Na ja, was soll man schon vom Herausgeber von Konkret groß erwarten? Aus seinen Worten spricht ja keine kritisch-emanzipative Analyse, sondern lediglich eine »Meinung«, die ihrerseits deutlich im Ressentiment wurzelt. Dieses Ressentiment wäre zu erörtern, gerade unter deutschen Gesichtspunkten.

Was ist das für ein Ressentiment? Ich meine, hier werden ähnliche Muster bemüht, die wir aus antijüdischen Verschwörungstheorien kennen.

Ja, genau darum geht es. Was man den Juden gegenüber nicht mehr äußern darf, wird auf »Erstatzjuden« projiziert, und zwar auf »Ersatzjuden«, die dahingehend legitim sind, dass sie sich in einem Feindschaftsverhältnis mit »den Juden« befinden. Das ist natürlich vollkommen ahistorisch wahrgenommen und eben darin ressentimentgeladen.

Das Gerede über den »Islam-Faschismus«, das Rechtspopulisten und Neocons, wie Henryk M. Broder oder Mathias Döpfner vom Springer-Konzern, ventiliert haben, ist massenkompatibel geworden und mit Pegida in der Gosse angekommen. Dort stehen Nazis und NATO-patriotische Gutbürger, die sich auf die »jüdisch-christliche Tradition des Abendlandes« berufen, einträchtig zusammen. Oftmals mit illustren Gästen: »Die wahren Nazis stecken in der islamischen Mentalität«, sagte ein Mitarbeiter der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv vor einigen Monaten in seinem Redebeitrag bei einer Pegida-Kundgebung in Frankfurt − bevor er den Deutschen en passant den Holocaust verzieh: »Israel ist mit Deutschland […], wir vergeben Euch!« Hat er damit eine logische Konsequenz von Netanjahus Diktum im Täterland vorweggenommen?

Dieser Mensch hört sich für mich gestört an. Aber ohne ihn psychologisieren zu wollen, kann man in der Tat behaupten, dass er mit seinem Gewäsch durchaus auf der Linie der Aussage von Netanjahu liegt. Was ich nie in derartigen Zusammenhängen verstehe, ist, wieso meinen solche Leute, in der Position zu sein, den Deutschen irgendwas »verzeihen« zu dürfen? In wessen Namen redet dieser Mann? Und wer sind »die Deutschen«, denen er so generös »verzeiht«? Interessant finde ich in diesem konkreten Fall, dass das ein Mitarbeiter der Bar-Ilan-Universität sagt. Das ist die Universität der nationalreligiösen Juden Israels, mithin der rechtsradikalen Siedler. Dort wuchs der Rabin-Mörder Yigal Amir heran. Diese jüdischen Faschisten sind bei Pegida tatsächlich völlig angemessen aufgehoben.

Wie groß ist der Einfluss dieser Faschisten? Etliche Knesset-Politiker unterhalten mehr als nur zarte Bande zu europäischen Rechtspopulisten, etwa zur FPÖ oder zum Vlaams Belang, die vor einigen Jahren die Israel-Solidarität für sich entdeckt haben. Mausert sich Israel zum Identifikationsmodell für eine neue internationale Rechte?

Es kommt darauf an, wo man beginnt und wo man die Grenze zieht. Dass der Rabin-Mörder gesiegt hat, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass zwanzig Jahre nach dem Attentat viele Jugendliche kaum noch den Zusammenhang der damaligen politischen Konstellation kennen und verstehen, sondern ignorant von der heutigen schrecklichen Situation als der Folge von Rabins Ansinnen reden. Das politische Umfeld des Mörders hat es sehr schnell geschafft, sich selbst als Opfer darzustellen, um dann das Blatt zu wenden und von den »Oslo-Verbrechern« zu reden. Und die, die diese Deutungsumkehr maßgeblich betrieben, sind heute an der Regierung − etwa Naftali Bennett oder Ayelet Shaked, die wichtige Ministerposten bekleiden, zugleich aber ganz unverhohlen die rechtsradikale Politik der Siedler betreiben und fördern. Aber man darf nicht vergessen, dass Netanjahu selbst 1995 mit von der Partie war, als gegen Rabin in schrecklichster Form gehetzt wurde, u.a. dessen Abbild in SS-Uniform gezeigt wurde. Netanjahu hat beste Chancen, Premier mit der längsten Amtszeit in der israelischen Parlamentsgeschichte zu werden. Das sind allerdings innerisraelische Entwicklungen. Ob das auch bedeutet, dass das Land sich zum Identifikationsmodell für eine neue internationale Rechte mausert, weiß ich nicht.

Interessant ist, dass sich Rechtsradikale in der westlichen Welt immer häufiger des Faschismusvorwurfs bemächtigen. Neue Rechte und Rechtspopulisten, etwa »Die Achse des Guten« und »PI«, bepöbeln ihre Gegner als »Nazis«. Als der Schriftsteller Akif Pirinçci, seit Jahren Superstar bei Burschenschaften und der AfD, jüngst auf einer Pegida-Demo deutsche Politiker wegen ihrer angeblich zu asylantenfreundlichen Haltung als »Gauleiter gegen das eigene Volk« bezeichnete, bekam er viel Applaus.

Es ist klar, dass auch die Rechte verstanden hat, wessen sie sich enthalten muss, wenn sie sich nicht von vornherein gesellschaftlich und politisch selbst disqualifizieren möchte. Gestandene Nazis bzw. Neonazis brauchen auf derlei keine Rücksicht zu nehmen. Aber jene, die sich nicht zu ihrer Gesinnung offen bekennen wollen bzw. ihre rechtsradikale Affinität kaschieren müssen, um konsensfähig zu bleiben, wissen genau, womit sie sich nach außen hin wappnen können, um eben nicht für Neonazis erachtet zu werden. Dieses perfide Phänomen der ideologischen Camouflage ist auch in Israel bekannt: Gestandene Rassisten geben sich liberal, demokratiefeindliche Elemente berufen sich auf Menschenrechte – und erhalten dabei großen Beifall von der Masse, die sich von linken »Anmaßungen« und zivilgesellschaftlichen Purismen absetzen will. Die »legitime Rechte« hat dazugelernt, sie weiß genau, wie sie legitim bleiben kann.

Nicht nur in Israel, wie Sie vorhin feststellten, – auch im Täterland werden Tabus gebrochen. Der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk konnte dieses Jahr in den »Tagesthemen« der ARD unwidersprochen geschichtsrevisionistisch von einem »sowjetischen Anmarsch« auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg fabulieren. Man müsse »vermeiden«, dass sich diese Aggression heute durch Russland wiederhole, forderte Jazenjuk, und erklärte weiter, »keiner hat das Recht, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges neu zu schreiben«. Geschieht nicht genau das heute – vielleicht sogar ein historisch-politischer Paradigmenwechsel −, allerdings durch rechte Hardliner wie Jazenjuk und seine westlichen Verbündeten?

Ja, genau das passiert, indem man sich dieses Neusprechs als interessengeleitete Verdrehung der Wahrheit bedient. Die Folgen: Zunächst die offensichtlichste, dass politische Koordinaten und Gesinnungen ihrer Differenz, mithin ihres Gehalts beraubt und emanzipatorische Qualitäten schlicht beseitigt werden. Wenn üble Demagogen und finstere Manipulatoren »aufklärerisch« auftreten, verkommt Aufklärung zum Lippenbekenntnis und wird ihrer Tendenz nach ideologisch. Auch das ist eine Art Dialektik der Aufklärung. Aber die wohl gefährlichste Folge wird die sein, dass das dabei aufgestaute Ressentiment als Verdrängtes seine Chance zur Wiederkehr nur wird abwarten müssen, um sich dann in voller Wucht zu entladen, und zwar so, dass es sich als Faschismus nicht mehr seiner selbst »schämen« muss. Bei der zur Farce mutierten Tragödie wird es dann wenig zu lachen geben.