(K)ein politischer Genozid

Quelle: https://www.jungewelt.de/2015/11-23/054.php

Mit einem selbstveranstalteten Tribunal zu den antikommunistischen Massakern in Indonesien vor 50 Jahren wollen Überlebende und Aktivisten die Regierung in Jakarta zur Aufarbeitung der Verbrechen drängen

Von Anett Keller

Mitte November in der Nieuwe Kerk in Den Haag: Unter hohen Fenstern, Kronleuchtern und einem geschnitzten Holzaltar sitzen vier Frauen und vier Männer an langen, mit schwarzen Tüchern bedeckten Tischen. Es sind die Richter des »Internationalen Völkertribunals 1965« (IPT 1965), eine illustre Runde, die hier vier Tage lang, vom 10. bis 13. November tagt. Geoffrey Nice ist unter ihnen, Ankläger von Slobodan Milosevic vor dem »Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien«. Die Australierin Helen Jarvis, Indonesien- und Kambodscha-Expertin und Vizepräsidentin des »Permanenten Völkertribunals«. Die iranische Anwältin und Frauenrechtlerin Shadi Sadr, die 2010 mit dem »International Women of Courage Award« ausgezeichnet wurde. Den Vorsitz hat der ehemalige südafrikanische Verfassungsrichter Zak Yacoob inne. Das Klägerteam, geführt vom indonesischen Staranwalt Todung Mulya Lubis, wird unterstützt von der deutschen Juristin Silke Studzinsky, die als Anwältin der Nebenklage beim »Rote-Khmer-Tribunal« in Kambodscha dafür sorgte, dass auf diesem auch geschlechtsspezifische Aspekte von Gewalt Beachtung fanden.

Vorbild Russell-Tribunal
Die Anklage, die am 10. November, dem ersten Tag des Tribunals verlesen wird, lautet auf Verbrechen gegen die Menschheit und Verstoß gegen Völkergewohnheitsrecht. Die Überlebenden, die hier aussagen, sind Opfer eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts: In Indonesien wurden 1965 und in den Folgejahren im Zuge der Machtergreifung von Diktator Suharto zwischen 500.000 und drei Millionen Menschen von Militärs und Milizionären ermordet. Hunderttausende weitere wurden – zumeist ohne Gerichtsverfahren – inhaftiert, gefoltert und als Zwangsarbeiter missbraucht. Vorausgegangen war dem Blutbad die Entführung und Ermordung von sieben prowestlichen Militärführern durch linke Offiziere, die sich selbst als »Bewegung 30. September« (G 30 S) bezeichnet hatten. Sie befürchteten einen Putsch der Rechten gegen Präsident Sukarno und wollten dem zuvorkommen. G 30 S lieferte mit dem dilettantischen ausgeführten »Rettungsversuch« jedoch das, was der kanadische Historiker John Roosa den »Pretext for mass murder«1 nannte, die Vorlage für die Konterrevolution durch Generalleutnant Suharto, der für die folgenden 32 Jahre – aktiv unterstützt von den USA und ihren Verbündeten – in Indonesien sein Regime errichtete.

Neun Verbrechen nennt die Anklageschrift des IPT 1965: Mord, Versklavung, Inhaftierung, Folter, sexuelle Gewalt, Verfolgung, Verschwindenlassen, Verfolgung durch Propaganda und Mittäterschaft weiterer Staaten (namentlich der USA, Großbritanniens und Australiens).

Eine juristische Aufarbeitung der Verbrechen von 1965 und der Folgejahre hat es in Indonesien bislang nicht gegeben. Zwar gibt es Gesetze zum Schutz von Menschenrechten. Zwar hat die »Nationale Menschenrechtskommission« 2012 in einem umfangreichen Bericht festgestellt, dass die Gewalttaten von 1965 Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen und dass das Militär für diese verantwortlich ist. Doch der Generalstaatsanwalt, dessen Aufgabe es seitdem gewesen wäre, Ermittlungen einzuleiten, gibt den Bericht immer wieder wegen angeblicher Formfehler zurück.

Deswegen simulieren die Aktivisten und Juristen, koordiniert von der indonesischen Menschenrechtsanwältin Nursyahbani Katjasungkana, mit dem IPT 1965 eine Gerichtsverhandlung. Vorbild ist das »Russell-Tribunal« von 1967, auf dem die USA wegen Kriegsverbrechen in Vietnam angeklagt wurden. In den 70er Jahren hatte es zahlreiche Nachfolger gefunden und wird heute vom »Permanenten Völkertribunal« fortgesetzt. Als Initiative von Aktivisten und Betroffenen kann das IPT 1965 selbstverständlich keine rechtsverbindlichen Urteile fällen. Ziel ist vielmehr, die begangenen Verbrechen an die Öffentlichkeit zu bringen und Druck auf die politisch Verantwortlichen zu machen. Die Anklagebank bleibt leer. Auch eine Verteidigung gibt es nicht. Immer wieder fragen die Richter, ob Vertreter der indonesischen Regierung anwesend sind und sich äußern wollen. Vier Tage lang. Niemand meldet sich.

Massenmord an der Linken
Vor 1965 hatte die junge Republik Indonesien mit der »Partai Komunis Indonesia« (PKI) die drittgrößte kommunistische Partei der Welt. Außenpolitisch verfolgte Präsident Sukarno zunächst den »Dritten Weg« – Indonesien gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Blockfreienbewegung. Das innenpolitische Konzept des charismatischen Sukarno hieß Nasakom, ein Akronym gebildet aus Nationalismus, Religion und Kommunismus. Doch die Führung der demgemäß zusammengesetzten heterogenen Allianz entglitt Sukarno zunehmend. Ein 1960 erlassenes Landreformgesetz wurde von jenen, deren Besitz es beschnitt, nach Kräften torpediert, so dass wütende Bauern schließlich gewaltsam Land besetzten, was zu starken Konflikten in der Gesellschaft führte. Die PKI, aber auch Bauernverbände und Gewerkschaften hatten starken Zulauf. Außenpolitisch brachte Sukarno den Westen mit der Verstaatlichung von Unternehmen und der zunehmenden Annäherung an China gegen sich auf. US-Botschafter Howard Jones teilte dem State Department im März 1965 mit, dass ein gescheiterter Putschversuch der PKI »die effektivste Entwicklung sei, um eine Umkehrung des politischen Trends zu erreichen«.2

Die »Umkehrung« ließ nicht lange auf sich warten. Suhartos Machtergreifung brachte Indonesien zurück ins kapitalistische Lager. Obwohl die »rote Gefahr« durch die völlige Zerschlagung der Linken praktisch »gebannt« war, hielt Suharto das »Gespenst des Kommunismus« drei Jahrzehnte lang lebendig. In Schulbüchern, staatlich beauftragten Filmen, in Monumenten und in den Reden der Militärführer wurde die Bevölkerung gewarnt vor der angeblichen Gottlosigkeit und Gewalt der Kommunisten. So wurden die Opfer zu Tätern gemacht und fortgesetzt entmenschlicht.

Erschütternde Zeugnisse
Die Überlebenden der antikommunistischen Gewalt sind extra für das Tribunal aus Indonesien angereist. Sie sind alt. In Den Haag treffen sie auf Exilindonesier, die 1965 im Ausland waren und ausgebürgert wurden, weil sie als Staatsfeinde galten. Sie alle haben lange auf diesen Tag gewartet, an dem sie öffentlich vor Klägern und Richtern und der per Videokonferenz in mehreren Ländern zugeschalteten Öffentlichkeit über die an ihnen verübten Verbrechen berichten.

Der anonym bleibende Zeuge, der aus Sicherheitsgründen hinter einem schwarzen Vorhang sitzt, war 21 Jahre alt, als er 1965 verhaftet wurde. 14 Jahre hielt das Regime ihn gefangen, neun davon auf der Gefangeneninsel Buru (Molukken). Er berichtet von Folter und Zwangsarbeit. Davon, wie die Häftlinge Baracken aufbauen, Kanäle anlegen und Land bestellen mussten. Davon, wie sie Ratten, Eidechsen und Schlangen aßen, um zu überleben. Im August 1969 waren die ersten von später insgesamt 12.000 Gefangenen mit Schiffen auf die Insel Buru gebracht worden. Unter ihnen war Indonesiens bekanntester Schriftsteller, Pramoedya Ananta Toer, der mit seinem Buch »Stilles Lied eines Stummen«3 den Häftlingen von Buru ein Denkmal gesetzt hat. Unter ihnen waren zahlreiche Lehrer, Künstler, Journalisten – vor deren Einfluss auf die Gesellschaft sich das Suharto-Regime fürchtete, das sie deshalb weit weg in die Verbannung schickte, so wie es bereits die holländische Kolonialmacht mit ihren Gegnern gemacht hatte. Und es seien holländische Wissenschaftler gewesen, die dem Suharto-Regime mit Psychotests 1965 und in den Folgejahren bei der Klassifizierung von Gefangenen halfen, betont die Indonesien- und Gender-Expertin Saskia Wieringa, die das IPT 1965 mit organisierte und als Expertenzeugin aussagte.

Auch für Frauen gab es ein spezielles Lager, Plantungan in Zentraljava, eine ehemalige Leprastation. Die Frauen, die aus Haftanstalten im ganzen Land ab 1971 dorthin gebracht wurden, hatten meist schwere Folter und Massenvergewaltigungen durch Militärs und Milizen hinter sich. So auch die Überlebende, die – ebenfalls anonym – während des Tribunals aussagt. Sie hatte gerade begonnen, als Lehrerin zu arbeiten, als sie 1966 verhaftet wurde. »Sie zogen mich aus und sie zwangen mich, auf einen Tisch zu steigen. Ich sollte zugeben, dass ich Teil des politischen Widerstandes bin. ›Nein‹, sagte ich. Sie zündeten mein Schamhaar an. Ich rief Jesus an. Das machte sie nur noch wütender. Du bist doch Atheistin, was redest Du über Jesus! Sie drehten den Tisch, so dass ich herunterfiel. Sie schleiften mich zur Wand und schlugen mich.« Immer wieder muss die Zeugin ihre Aussage unterbrechen, ein Schluchzen ist zu hören, dann Stille, bevor sie weiterspricht: »Wieder wurde ich ausgezogen. Männer hielten mich fest und zwangen mich, ihre Penisse in den Mund zu nehmen. Dann zerrten sie an meinen Haaren und traten meinen Körper. Ich wurde bewusstlos und wachte erst in meiner Zelle wieder auf.«

Mariana Amiruddin von Indonesiens »Nationaler Kommission gegen Gewalt gegen Frauen« bestätigt während der Anhörungen dem IPT 1965, dass die Zeugenaussage keinen Einzelfall beschreibt. Bereits 2007 legte die Kommission der Regierung einen Bericht vor, der belegt, dass sehr viele Frauen 1965 und in den Folgejahren Opfer systematischer sexueller Gewalt wurden.4 Die Grausamkeit von Militärs und Milizen richtete sich vor allem gegen Mitglieder der damals progressivsten Frauenorganisation des Landes, »Gerwani«. Die 1950 gegründete Organisation kämpfte gegen Polygamie und häusliche Gewalt, brachte Analphabetinnen Lesen und Schreiben bei und gründete Kindergärten. Die Gerwani-Frauen setzten sich mit Bauern für Landreformen ein, mit Gewerkschaftern für Arbeiterrechte und waren auch international bestens vernetzt, zum Beispiel mit der »Internationalen Demokratischen Frauenföderation« in Berlin, Hauptstadt der DDR. 1,5 Millionen Mitglieder hatte »Gerwani« im Jahr 1965, Tendenz steigend.5

Die schmutzigen Hände der USA
Nach dem Generalsmord durch die »Bewegung 30. September« streuten Militärmedien das Gerücht, Frauen der »Gerwani« hätten den Generälen die Penisse abgeschnitten und die Augen ausgestochen und seien anschließend nackt um ihre Leichen getanzt. Diese Entmenschlichungskampagne mündete in unvorstellbare Grausamkeit gegenüber Gerwani-Frauen und jenen, die dafür gehalten wurden. Damit beseitigten Militär und reaktionäre zivile Kräfte im Land den Gegner, der ihnen schon lange ein Dorn im Auge war. »Verfolgung mit Hilfe von Propaganda« lautet Punkt acht der Anlageschrift des IPT 1965. »Propaganda und Hassreden waren sehr systematisch. Das Militär kontrollierte alles. Zivilisten hatten keine Raum zur Meinungsäußerung. Das Ergebnis der Propaganda war eine Kultur der Angst. Deswegen haben wir das als eigenen Anklagepunkt aufgenommen«, so Chefankläger Todung Mulya Lubis. Die Beweisführung zeigt, welche Rolle eine aus Washington rege unterstützte psychologische Kriegsführung gespielt hat, die den Regime-Change in Indonesien vorbereitete und danach weiterhin zum Einsatz kam.

Als Expertenzeuge geladen ist Wijaya Herlambang, der in seiner Doktorarbeit die »kulturelle Gewalt«6 untersuchte, mit der sich das Suharto-Regime selbst legitimierte. Eine entscheidende Rolle in der staatstragenden Geschichtsschreibung spielte der US-Amerikaner Guy Pauker. Pauker beriet – als Mitarbeiter der Rand Corporation – den indonesischen Historiker und späteren Bildungsminister Nugroho Notosusanto beim Verfassen seines Buches »The Coup Attempt of the 30th September Movement in Indonesia«, das zum historischen Hauptnarrativ von Suhartos »Neuer Ordnung« wurde.7 »Es war die ›heilige Schrift‹ der ›Neuen Ordnung‹ und die Basis für die Indoktrinierung der gesamten Bevölkerung, dass der Kommunismus aus der indonesischen Gesellschaft ausgestoßen werden müsse«, so Herlambang zu den Richtern des IPT 1965. Es bestehe eine klare Verbindung zwischen der kulturell vermittelten Diskriminierung, Marginalisierung und Einschüchterung und dem Hass und der Gewalt (auch von Zivilisten), die sich gegen Linke richtete.

Nugroho Notosusantos Buch bildete die Vorlage für den fast vierstündigen Propagandafilm »Der Verrat der Bewegung 30. September«, der von 1984 bis zum Ende der Suharto-Diktatur jedes Jahr am 1. Oktober ausgestrahlt wurde und der für Schulkinder bereits in der Grundschule Teil des Lehrplans war. Herlambang nennt weitere Kulturprodukte, die essentiell für die Legitimierung Suhartos waren, wie zum Beispiel das antikommunistische Pancasila-Monument und das daran angrenzende »Museum des Verrats der Kommunisten« im Süden der Hauptstadt Jakarta, zu dem auch heute noch Scharen von Schulkindern pilgern.8

In seinem Buch verweist Herlambang auch auf die langfristige Strategie der USA, die bereits ab den 50er Jahren indonesische Militärs ausbildeten und prowestliche Intellektuelle mit Stipendien bedachten. In Westberlin schlug 1950 die Geburtsstunde des »Kongresses für kulturelle Freiheit« (CCF), einer von der CIA über die Ford Foundation finanzierten antikommunistische Vereinigung »liberaler« Künstler und Intellektueller, die die Entideologisierung der Kunst und Kultur forderten. Der CCF spielte auch in Indonesien eine entscheidende Rolle, die intellektuelle »Elite« auf die Machtübernahme unter Suharto vorzubereiten.

IWF auch mit dabei
Weitere Details zur »Schützenhilfe« aus Washington erläuterte während des IPT 1965 der US-amerikanische Historiker Bradley Simpson.9 »Die größte Angst der westlichen Regierungen war, dass die Armee nicht hart genug gegen die Kommunisten vorgehen würde«, so Simpson. Mit Waffen, Kommunikationsgerät, Medizin, Lebensmitteln und Bargeld habe Washington Suhartos Militärs unterstützt. Im Gegenzug sorgten diese auf Aufforderung Washingtons dafür, dass die Einnahmen der von Indonesien verstaatlichten Unternehmen auf Schweizer Bankkonten landeten, also der (zu dem Zeitpunkt noch amtierenden) Sukarno-Regierung entzogen wurden. »Ein großer Teil des ökonomischen Kollapses war also von der Armee mit Hilfe westlicher Regierungen selbst verursacht worden«, so Simpsons Fazit. »Das Material, das wir haben, zeigt ausreichend, dass westliche Regierungen die Armee bei den Massakern aktiv unterstützt haben und dass sie das in dem Wissen taten, dass die Armee in großer Zahl unbewaffnete Zivilisten umbrachte.« Er habe Tausende von inzwischen freigegebenen Dokumenten gesichtet und »kein einziges Statement von westlichen Offiziellen darüber gefunden, dass es zu viele Morde gewesen seien«.

Nachdem die PKI und alle ihr nahestehenden Organisationen als Haupthindernis bei der Reintegrierung Indonesiens ins westliche Wirtschaftssystem beseitigt worden waren, kehrte der »Internationale Währungsfonds« (IWF) 1966 nach Indonesien zurück, diesmal ohne mit Massenprotesten konfrontiert zu sein wie noch zu Beginn der 60er Jahre. Die »Strukturanpassung« Indonesiens bestand aus neuen Wirtschaftsgesetzen unter Federführung von in den USA ausgebildeten Ökonomen (der »Berkeley-Mafia«) und US-Beratern, die Indonesiens lukrativen Rohstoffsektor für private Investoren wieder öffneten. Suharto etablierte seine über 30 Jahre währende »Entwicklungsdiktatur«, zu der auch die Bundesrepublik beste Beziehungen pflegte (was allerdings nicht Gegenstand der Ausführungen des Tribunals war).10

Das Gewaltmuster von 1965 habe sich fortgesetzt, sagte Dianto Bachriadi von der »Indonesischen Menschenrechtskommission« (Komnas HAM). »Wenn Menschen sich der Übernahme von Land für Regierungsprojekte oder private Investoren widersetzten, wurden sie als Kommunisten abgestempelt.« Allerdings enthielt sich das Tribunal einer Nennung von Unternehmen und Einzelpersonen, die davon profitiert haben oder profitieren, dass der indonesische Staat ihre ökonomischen Interessen gewaltsam durchsetzt.

Ein notwendiger Schritt
Darin liegt einer der Kritikpunkte indonesischer Aktivisten, zumal der Chefankläger des IPT 1965, Todung Mulya Lubis, in Indonesien als Anwalt auch im Dienste von Multis wie Exxon, Newmont und Freeport steht. Manche Aktivisten, die sich in Indonesien seit langem mit der Aufarbeitung von 1965 beschäftigen, kritisieren außerdem, dass das Tribunal sich nicht genügend Zeit genommen habe, um eine tragfähigere Beweiskette aufzubauen. Kritisiert wurde auch, dass der Terminus eines »politischen Genozids«, den viele Historiker im Zusammenhang mit Indonesien und 1965 bereits benutzen, keinen Eingang in die Anklageschrift fand, obwohl das der Debatte um das bisherige Ausklammern von politischer Verfolgung aus dem Völkerstrafrechtstatbestand Genozid neue Impulse hätte geben können.

Letzten Endes, resümiert eine indonesische Aktivistin, müsse man das Ganze jedoch als einen von vielen Schritten ansehen. Tatsächlich gehen in Indonesien viele Menschen in Graswurzelinitiativen, an Universitäten, in künstlerischen Projekten viele kleine Schritte, um in der Gesellschaft eine Kultur der Erinnerung an das Leid der Opfer von 1965 zu verankern und die Regierung zu einer Vergangenheitspolitik zu bewegen, die einem Land, das sich »demokratisch« nennt, angemessen wäre.

Die Richter des IPT 1965 kamen nach vier Tagen zu dem Schluss, das vorgebrachte Material zeige, dass 1965 und in den Folgejahren in Indonesien schwere Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben. Militär und Polizei hätten diese Menschenrechtsverletzungen »systematisch und weitverbreitet« ausgeführt und dazu ermuntert. Die »detaillierten und bewegenden« Zeugenaussagen von Opfern und Angehörigen sowie die von Experten vorgebrachten Beweise seien, so die Richter, offenbar »nur die Spitze des Eisbergs«. Ein Richterspruch wird nach Sichtung des umfangreichen Beweismaterials im nächsten Jahr in Genf erfolgen und soll den Vereinten Nationen vorgelegt werden.

»Es ist ein spannendes politisches Theater, doch was es bringen wird, bleibt abzuwarten«, lautete das nüchterne Fazit eines Expertenzeugen. Von Politikern »alter Schule« in Indonesien wurde die Tatsache, dass das Tribunal auf dem Boden der ehemaligen Kolonialmacht Holland stattfand, zum Anlass genommen, dagegen Stimmung zu machen. Die Indonesier, die dort aufträten, würden nicht wie Indonesier denken und handeln, hieß es vom koordinierenden Minister für Politik, Recht und Sicherheit, Luhut Panjaitan. Generalstaatsanwalt HM Prasetyo ließ verlautbaren, Indonesien wisse selbst am besten, wie es seine Probleme löse.

Wem derartige Argumentationen bekannt vorkommen, der sei an das erinnert, was Der Spiegel einst ein »Scheinverfahren gegen unser Land« nannte, in dem »zwei Dutzend Ausländer, unter ihnen Sozialisten und Kommunisten«, sich anschickten, »die Bundesrepublik zu verurteilen«. Das war 1978. Der Anlass war das dritte Russell-Tribunal, welches die BRD wegen des Radikalenerlasses angeklagt hatte.

Anmerkungen

1 Näheres zur »Bewegung 30. September«, den politischen Kräfteverhältnissen in Indonesien zuvor und der »aktiven Außenpolitik« westlicher Staaten in John Roosa: Pretext for mass murder, University of Wisconsin Press, 2006

2 Roosa, S. 190

3 Unter diesem Titel im Horlemann Verlag 2000 erschienen

4 Gender Based Crimes Against Humanity. Listening to the Voice of Women Survivors of 1965, Komnas Perempuan, 2007

5 I Gusti Agung Ayu Ratih: Die Auswirkungen von 1965 auf die indonesische Frauenbewegung, in: Anett Keller: Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes, Regiospectra, 2015, sowie Saskia Wieringa: Sexual Politics in Indonesia, Palgrave Macmillan, 2002

6 Wijaya Herlambang: Cultural Violence: Its Practice and Challenge in Indonesia, VDM, 2011

7 Wijaya Herlambang: Film als Mittel der Propaganda, S. 123–136 in: Keller (2015)

8 Anett Keller: Verteidiger der alten Macht, in: Südostasien 3/2011, http://www.asienhaus.de/public/archiv/2011-3-052.pdf

9 Bradley Simpson: Economists with Guns. Authoritarian Development and US-Indonesian Relations 1960–1968, Stanford University Press, 2008

10 Rainer Werning: Gepanzerte Freundschaften, jW 21.3.2013; Jörg Kronauer: Befreundete Führungsmacht, jW 14.10.2015