Globalisierung und Migration

Quelle: http://www.hintergrund.de/201505223544/politik/welt/globalisierung-und-migration.html

Die Erben der Enterbten

Von MATTHIAS RUDE, 22. Mai 2015

Eine Stadt aus Stein und Eisen. Eine erleuchtete Stadt, in der die Mülleimer von nie gesehenen, nicht einmal erträumten Resten überquellen – eine unerreichbare Stadt. So beschrieb Frantz Fanon in Die Verdammten dieser Erde (1961) die Sicht der Kolonisierten auf Europa. Über Afrika hingegen schrieb er: „Man wird dort irgendwo, irgendwie geboren. Man stirbt dort irgendwie, an irgendwas.“

„Der Anblick aneinander geketteter junger Schwarzer weckt in Afrika unweigerlich böse Erinnerungen; freilich sollten sie diesmal nicht mit Gewalt in den Westen verschleppt, sondern vielmehr an der Reise dorthin gehindert werden“, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) im Jahr 2005 unter dem Titel „Die neuen Verdammten dieser Erde“ die Ereignisse vor den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko. In jenem Jahr brachte die Abschottung der EU eine neue Form der Migration hervor: Nachdem es unmöglich geworden war, heimlich über die Grenze zu gelangen, wagten Flüchtlinge den kollektiven offenen Grenzübertritt. Dabei wurde das Feuer auf sie eröffnet. Dass es beim verzweifelten Sturm auf die Zäune 16 Tote gab, habe die Öffentlichkeit weniger schockiert „als der unglaubliche Beschluss, die Migranten in die Wüste abzuführen und sie dort sterben zu lassen“, so die NZZ.(1)

Dass nichts dagegen unternommen wird, dass an den Außengrenzen Europas massenhaft Menschen sterben, geschieht aus politischem Kalkül. „Europas Politiker haben es so gewollt“, kommentierte Spiegel Online die neuerliche Flüchtlingskatastrophe mit über 300 Toten vor der Mittelmeerinsel Lampedusa im Februar dieses Jahres. Es handele sich um „eine erschreckende, menschenverachtende Logik“: Die EU nehme Tote hin, um Migranten auf dem Weg nach Europa abzuschrecken.(2) Diese Erfahrung hat auch ein 30-jähriger Schiffsoffizier aus Deutschland gemacht, der seit zwölf Jahren im Mittelmeer unterwegs ist, die ersten Jahre auf Frachtschiffen. Da er Probleme mit seinem Arbeitgeber fürchtet, will er anonym bleiben. Gegenüber Hintergrund berichtet er, dass es auf See kaum mehr möglich sei, Flüchtlinge legal aufzunehmen. „Verantwortlich ist der Kapitän des Schiffes, der mit Problemen mit den Behörden rechnen muss, wenn er Flüchtlinge aufnimmt, mit Kriminalisierung als ,Schlepper‘, mit Ermittlungen und langwierigen Untersuchungen. Er steht vor der Wahl, sie in einer Notsituation zu ,übersehen‘ oder sie irgendwie wieder loszuwerden, sprich, an Land zu schleusen oder über Bord zu werfen – bei Glück in Landnähe, oder aber mit Mordvorsatz. Sind die Flüchtlinge erst einmal an Bord, kosten sie Geld, und oft genug müssen die Flüchtlinge dann bezahlen oder alles abarbeiten.“

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