Frontbesuch bei der Kommunistischen Einheit

Quelle: https://www.jungewelt.de/2015/09-12/025.php

In den Himmel schauen

Ein Frontbesuch bei der Kommunistischen Einheit 404 der Prisrak-Brigade im Osten der Ukraine

Von Susann Witt-Stahl

Die ukrainischen Stellungen liegen nur rund 500 Meter entfernt. »Im Morgenlicht ist es besonders gefährlich. Die Scharfschützen versuchen ihr Glück«, warnt ein Kämpfer der Kommunistischen Einheit und zeigt auf eine Anhöhe. Aus den Barrikaden auf dem benachbarten Feldweg ragt ein Schild mit der Aufschrift »Minen«. Der Frontabschnitt in der Ortschaft Donezkij, den die Einheit 404 zu halten hat, liegt rund 40 Kilometer nordwestlich von der Stadt Altschewsk und ist nur über nahezu unbefahrbare Straßen, teilweise sogar unbefestigtes Gelände zu erreichen. »Das waren ukrainische Panzer«, erklärt ein Politkommissar mit dem Kampfnamen »Alexander Krot«, warum fast alle Gebäude in der Umgebung zerstört oder beschädigt sind. »In der Sowjetära hatte Donezkij noch 8.000 Einwohner, nach dem Zusammenbruch 4.500 und seit Kriegsbeginn sind es nur noch 800.« Eine von ihnen, Galina Selimova, lädt zur Besichtigung ihres verwüsteten Hauses. »Wir haben unser Leben lang gearbeitet, aber statt unsere Rente auszuzahlen, lässt Kiew uns beschießen.«

»Das ständige Artilleriefeuer gegen die Zivilbevölkerung ist Terror«, meint »Krot« und präsentiert Kriegsgerät, das seine Einheit in der Schlacht um Debalzewe erbeutet hat. Der Vater von zwei kleinen Kindern kommt aus der Nachbarstadt Stachanow. »Als die neue Regierung begonnen hat, Gegner des Maidan zu verhaften und umzubringen, blieb uns nichts anderes übrig, als die Waffe in die Hand zu nehmen.«

»Hitler kaputt!« ruft eine Kämpferin und grinst, als sie hört, dass eine Journalistin aus Deutschland gekommen ist. In der Einheit 404 gibt es einige Frauen. Darunter eine junge Israelin, die auch hier ist, um ihre Landsleute mit zuverlässigen Informationen zu versorgen: »Die russischsprachige Presse in Israel ist sehr einseitig pro Kiew.« Nika, eine 29jährige Verkäuferin aus Lugansk, hat einen Sohn im Grundschulalter. Warum riskiert sie, dass er als Waise aufwachsen muss? »Ich will, dass er eine Zukunft ohne Faschismus hat« − sie legt großen Wert auf die Feststellung, dass sie nicht trotz, sondern wegen ihres Kindes kämpft.

Im 404-Camp gibt es Strom, aber kein Wasser. Die Ausrüstung ist mehr als dürftig. Als »sanitäre Anlagen« können die Orte, an denen die Körperhygiene stattfindet, beim besten Willen nicht bezeichnet werden. Reisbrei mit ein paar Fleischfetzen zum Abendessen, Rosinenbrötchen zum Nachtisch, dazu »Kompott«, gesüßter Tee aus frischem Obst – auch die Verpflegung ist spartanisch. Die einzige Frontunterhaltung: Katzenbabys toben durch die kleine Kantinenbaracke. »Die Tierliebe in der Einheit ist groß. Es wurden schon Panzer gestoppt und das Feuer eingestellt, um Hunde vor dem Tod zu bewahren«, berichtet »Nemo«, ein italienischer Antiimperialist. Dass er und seine Genossen auch am Menschentöten keine Freude haben, wird deutlich, wenn sie erzählen, warum sie hier sind: »Ich bin Kommunist, daher ist es meine Pflicht zu verhindern, dass sich im Herzen Europas wieder ein faschistischer Block bildet.« »Lucky«, ein anarchistischer Skinhead aus Madrid, will etwas gegen den grassierenden »antirussischen Rassismus« unternehmen.

Internationale Linke setzen sich großen Strapazen aus − westliche Kriegsreporter hingegen machen sich rar. »Die haben viel zu große Angst«, feixt eine Unterstützerin, die PR-Arbeit für die Einheit leistet. Dass hier kaum verwertbares Material für die Dämonisierung der Aufständischen zu finden sein dürfte, könnte ein weiterer Grund sein: Russische Nationalisten und andere Rechte, die das NATO-patriotische Medienestablishment allzu gern als Argument für den Feldzug der ukrainischen Armee und faschistischer Paramilitärs im Donbass aus dem Hut zaubert – Fehlanzeige. Alexej Markow, der politische Kommandeur, der in seiner Einheit wegen seiner Liebenswürdigkeit und unendlichen Geduld »Dobrij«, der Gute, genannt wird, vertritt ein humanistisches Weltbild auf Basis des Marxismus-Leninismus. Die Signale aus Kiew findet er verstörend: »Nach der Schlacht in Debalzewe haben wir Gefallene von der Gegenseite gefunden, die an ihrer Uniform Aufnäher mit der Aufschrift ›Sklavenhalter‹ trugen«, so Markow. »Kein Wunder, in den ukrainischen Freiwilligenbataillonen herrscht die Meinung, dass im Donbass ›Untermenschen‹ leben.«

Für waffenstrotzenden Machismus und Kriegsromantik haben Markow und Genossen nichts übrig. Im Stab an der Leninstraße in Altschewsk verzichtet man weitgehend aufs Strammstehen und andere militärische Rituale. Manche Alltagszene entbehrt sogar nicht einer gewissen Komik: Die kleine Tochter eines Soldaten verspeist an »Dobrijs« Schreibtisch genüsslich ein Schokoladeneis, Kämpfer surfen mit seinem PC im Internet oder veranstalten einen Kaffeeklatsch – im Büro des politischen Kommandanten herrscht ein ähnlich buntes Treiben.

Aber Markow gaukelt keine Idylle vor – erst recht will er keine Illusionen verbreiten. Die USA würden weiter mit Präsident Petro Poroschenko nach dem bewährten Motto »Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn« verfahren, meint er, und die deutsche Regierung zwar gegen Neonaziaufmärsche im eigenen Land vorgehen, aber über die Gedenkfeiern für NS-Verbrecher in der Ukraine großzügig hinwegsehen. Die Lage seit »Minsk II« beschreibt Markow als Zermürbungskrieg. Aktuell gebe es keine großen Gefechte, aber jeden Monat Tote und Verletzte in seiner Einheit. Zahlen nennt er keine.

»Natürlich sind wir keine Friedenstauben, sondern Soldaten«, ergänzt Pjotr Birjukow, der militärische Befehlshaber von 404. Es dürfe nicht vergessen werden, was nach dem Reichstagsbrand geschehen sei, meint der Ingenieur aus Sibirien. Birjukow ist davon überzeugt, dass der Krieg erst enden wird, wenn die »faschistische Pest« besiegt ist. Die Ereignisse von Odessa am 2. Mai 2014, als ein von ukrainischen Faschisten angeführter Mob das Gewerkschaftshaus angezündet und Dutzende Menschen ermordete, hätten ihn endgültig davon überzeugt, dass er den bewaffneten Kampf aufnehmen müsse. »Denn die kommenden Generationen sollen in den Himmel schauen, und nicht in den Abgrund.«