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Besuch in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk: Im Osten der Ukraine
versucht die Bevölkerung den zivilen Alltag nach monatelangem Krieg zu
organisieren
Von Martin Dolzer, junge Welt vom 27.05.2015
Wie sieht das Leben in der im Osten der Ukraine gut ein Jahr nach der
Proklamation der »Volksrepublik Donezk« (DNR) und der »Volksrepublik
Lugansk (LNR) aus? Nach der Proklamation der international nicht
anerkannten Republiken am 11. und 12. Mai 2014 hat die prowestliche
Führung in Kiew die Region mit Krieg überzogen, Oppositionelle und
Andersdenkende werden systematisch verfolgt und ermordet. Am Wochenende
wurde Alexej Mosgowoj, der Kommandeur einer kommunistischen
Kampfeinheit, von »Spezialkräften« getötet.
Trotz der Isolierung beginnen die Menschen im Donbass, ihr Leben in der
Provinz zu organisieren. Zur Vorbereitung einer juristisch einwandfreien
Verstaatlichung wurden Banken, Energieunternehmen, Teile der Industrie
(Kohlebergbau und Metallindustrie) unter die Verwaltung der
Volksrepubliken gestellt. Auch Teile der Landwirtschaft sind
mittlerweile kollektiviert. Andere befinden sich noch in privatem
Besitz. Landwirtschaftsminister Maxim Sawenko erklärte im Gespräch mit
dem Autor, dass es sich um einen schrittweisen Prozess handelt, bei dem
Kleinunternehmen vorerst ausgenommen sind. Ein Bergarbeiter berichtete,
dass Anfang März 2015 in einem damals noch privaten Bergwerk aufgrund
der verwertungsorientierten Produktion und der dadurch bedingten
Aushebelung der Sicherheitsstandards bei einer Gasexplosion 36 Menschen
gestorben waren. Durch Artilleriebeschuss waren bereits Schäden
entstanden, die aber dann nicht beseitigt wurden. Nach dem Unglück
beschloss die Regierung, das Bergwerk unter staatliche Verwaltung zu
stellen. Die Verantwortlichen wurden inhaftiert.
Bildung, ein funktionierendes Sozialsystem und das respektvolle
Zusammenleben aller Bevölkerungs- und Religionsgruppen seien zentrale
Anliegen der angestrebten Gesellschaftsgestaltung, so Minister Sawenko.
Ein antifaschistischer Grundkonsens sei die Grundlage. Sechs der 17
Ministerien der DNR sind von Frauen besetzt, darunter die Ressorts
Wirtschaft, Finanzen, Justiz sowie Soziales und Arbeit. Auch in den
bewaffneten Einheiten gibt es Kämpferinnen und Kommandantinnen.
Wegen der Blockadepolitik Kiews, der EU und des monatelangen Krieges
sind normale wirtschaftliche Beziehungen, außer eingeschränkt denen
zu Russland, für die eigentlich reiche Region nicht realisierbar. In der
DNR mangelt es deshalb an wesentlichen Artikeln der Grundversorgung.
Probleme bestehen auch bei der Zahlung von Pensionen und Gehältern im
öffentlichen Dienst. Trotz alledem organisieren die Menschen Kultur- und
Sportveranstaltungen und haben teil am politischen Leben.
Auf dem Weg von der russischen Grenze nach Donezk sind unzählige
zerstörte Häuser, Schulen und industrielle Gebäude zu sehen. Hier hatten
schwere Kämpfe stattgefunden. Mittlerweile sind diese Gebiete unter
Kontrolle der DNR und befriedet. »Da hier hauptsächlich die regulären
Truppen der ukrainischen Armee und keine faschistischen Bataillone
kämpften, gibt es nicht ausschließlich eine Politik der verbrannten Erde
und Vernichtung«, berichtet ein Anwohner. Ein Mitarbeiter der
DNR-Regierung ergänzt: »In manchen Gegenden sind sämtliche Gebäude
beschädigt oder zerstört. Die Versorgung mit Strom und Wasser und der
Aufbau von Fabriken sind erste zentrale Aufgaben, die wir umsetzen.
Aufgrund der Stabilisierung kehren mittlerweile erste Geflohene wieder
zurück.«
In der Volksrepublik Lugansk (LNR) ist die Ausgangssituation ähnlich wie
in Donezk. Der Bürgermeister von Swerdlowsk, Andrej Suchatschow,
berichtet, dass es an allem mangelt. An medizinischer Versorgung, an
Medikamenten, an der Ausstattung von Bildungseinrichtungen und
Kindergärten. Die Verkehrsinfrastruktur liegt darnieder. Die
Krankenhäuser in der Region befänden sich in einem »humanitären
Notstand«. Es fehlte an Herzmedikamenten und Operationsinstrumenten,
aber auch Mullbinden, Desinfektionsmittel, Antibiotika und
Berufskleidung würden benötigt. Die Volksrepubliken seien auf humanitäre
Hilfe angewiesen.
Im Sommer 2014 fand in Swerdlowsk eine wochenlange Schlacht um die Stadt
und den Zugang zur Grenze zu Russland statt. Obwohl die Verteidiger sich
aus der Stadt heraus begeben hätten, um Zivilisten zu schützen, habe die
ukrainische Armee das Zentrum beschossen. Sechs Zivilisten wurden den
Angaben zufolge von ukrainischen Scharfschützen erschossen, ein
Linienbus durchsiebt, zahlreiche Landwirte ermordet. Mittlerweile ist
die ukrainische Armee aus Swerdlowsk vertrieben, die Front 180 Kilometer
entfernt.
Es ist absehbar, dass die Regierung in Kiew den Krieg erneut eskalieren
will. Präsident Petro Poroschenko äußerte sich mehrfach in diese
Richtung, Gefechte finden an mehreren Orten nahe Donezk und der
offiziell demilitarisierten Zone statt. Und wieder wird um die Stadt
Mariupol gekämpft. Der in Minsk vereinbarte Abzug schwerer Waffen wurde
von der ukrainischen Armee und dem faschistischen Freikorpsbataillon
»Asow« nicht umgesetzt. »Minsk II wird von Kiew genutzt, um sich auf
eine große Offensive vorzubereiten«, ist immer wieder zu hören. In
Mariupol und Umgebung, vor allem im Ort Schirokino, ist offenbar jetzt
schon geplant, die militärische Überlegenheit über die Verbände der DNR
zu erlangen. Ein solches Vorhaben war Anfang des Jahres bei Donezk und
im Kessel von Debalzewo gescheitert.
Martin Dolzer ist Abgeordneter der Linksfraktion in der Hamburgischen
Bürgerschaft. Er reiste vom 9. bis zum 16. Mai mit einer Delegation aus
Teilnehmern unterschiedlicher antiimperialistischer, anarchistischer,
exilrussischer und sozialistischer Organisationen in die Volksrepubliken
Donezk und Lugansk, brachte Spenden in ein Kinderheim in Swerdlowsk,
sprach mit verantwortlichen Politikern und nahm an einem internationalen
Fußballturnier in Donezk teil.
Kriegsverbrechen in Kiews Polizeistaat
Die Ukraine wird »mehr und mehr zu einem Polizeistaat«. Das konstatierte
am vergangenen Freitag der stellvertretende Vorsitzende der
Linksfraktion im Bundestag, Wolfgang Gehrcke. Hintergrund war die
Entscheidung der prowestlichen Führung in Kiew, Verpflichtungen aus
Menschenrechtserklärungen »vorläufig auszusetzen«. Das widerspreche
allen europäischen Standards und auch dem der Ukraine angebotenen
Assoziierungsabkommen, so Gehrcke. Und weiter: »Nach der neuen
Gesetzgebung können Verdächtige, auch politisch Verdächtige, ohne
richterliche Entscheidung über mehr als 72 Stunden festgehalten werden.
Das vom ukrainischen Parlament beschlossene Gesetzespaket gegen
kommunistische Propaganda und Symbolik lässt eine Kette von
Denunziationen, willkürlichen Verhaftungen und Prozessen erwarten. Das
Tragen eines roten Sterns (Sowjetsterns) und das Singen der russischen
Nationalhymne sollen mit Haftstrafen zwischen fünf und zehn Jahren
geahndet werden.«
Während seiner Delegationsreise im Donbass Mitte Mai wurde dem Hamburger
Linke-Politiker Martin Dolzer über Kriegsverbrechen durch faschistische
Bataillone berichtet. Augenzeugen zufolge wurden mehrere Kämpfer der
Lugansker Einheiten nahe Swerdlowsk von einem faschistischen Bataillon
festgenommen, gefoltert und hingerichtet. Nach dem Brechen und
Zertrümmern unzähliger Knochen legten die Faschisten Granaten unter die
Körper der Gefangenen und zündeten sie. »Die Schilderungen werden durch
forensische Gutachten bestätigt«, so Dolzer.
Ein Kriegsverbrechen des Freikorpsbataillons »Asow« auf einem Stützpunkt
nahe Mariupol sei auf Video festgehalten. Dolzer: »Die faschistischen
Kämpfer kreuzigen einen Gefangenen, der von ihnen als Separatist
bezeichnet wird. Sie fixieren das Opfer mit Klebeband, durchschlagen die
Hände mit großen Nägeln, stellen das Kreuz auf und zünden den Menschen
an. Das Verbrechen wurde auf Handyvideo aufgezeichnet. Das Video ist
Experten zufolge echt, die Handlung nicht gestellt.« (jW)