Alles neu macht der Maidan

Quelle: http://www.jungewelt.de/2015/09-25/012.php

Ukrainische Regierungskoalition will aus sowjetischen Zeiten stammende Arbeitsgesetzgebung aufheben und Gewerkschaftsgründungen erschweren

Von Reinhard Lauterbach

Seit dem Frühjahr dieses Jahres sind in der Ukraine das Zeigen kommunistischer Embleme und eine positive Erinnerung an die sowjetische Periode offiziell verboten. Wer das für Symbolpolitik von übergeschnappten Nationalisten des Maidan-Putsches hält, unterschätzt die Konsequenz, mit der die neoliberale Regierungskoalition in Kiew neben dem symbolischen auch das materielle Erbe der Sowjetzeit zerstören will.

Jüngste Beispiele sind geplante Änderungen des Arbeitsgesetzbuches und ein bereits ins Parlament eingebrachtes »Gesetz über die staatliche Registrierung von juristischen Personen«. Letzteres hat den Protest des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) hervorgerufen. Denn es erschwert die Gründung von Gewerkschaften erheblich. War bisher nur eine Mitteilung an die Behörden erforderlich, muss nun ein formales Registrierungsverfahren durchlaufen werden. Der IGB moniert deshalb, dass die geplante Neuregelung die Internationale Konvention über die Koalitionsfreiheit der Beschäftigten verletze, nach der sich Arbeiter und Angestellte unabhängig von staatlicher Erlaubnis organisieren dürfen. Praktisch bedeuten die Regierungspläne, dass die Zahl der bei einer Gewerkschaftsgründung vorzulegenden Dokumente von drei auf 14 steigen soll. Über einen Registrierungsantrag soll innerhalb von 30 Tagen entschieden werden, doch dürfte dies bei der notorischen Ineffizienz der ukrainischen Bürokratie in der Praxis dann länger dauern. Entscheidend an dieser Übergangszeit ist jedoch, dass die Antragsteller während des Registrierungsverfahrens noch nicht den rechtlichen Schutz der – offiziell ja noch nicht genehmigten – Gewerkschaft genießen, während die Unternehmerseite über den Antrag informiert wird. Wie der IGB und ukrainische Gewerkschaften kritisieren, wird damit Repressalien der Unternehmen gegenüber Gewerkschaftern Tür und Tor geöffnet.

Hier kommt die zweite Novellierung ins Spiel: Das im Kern noch aus den 1970er Jahren stammende Arbeitsgesetzbuch soll nach dem Willen von Wirtschaftslobbyisten und der Regierungsparteien ebenfalls »an die EU-Gesetzgebung angepasst« werden. Im Prinzip gut marxistisch argumentieren die Unternehmensvertreter, dass ein Gesetz, das noch im Sozialismus konzipiert wurde, unmöglich die Arbeitsbeziehungen im Kapitalismus regulieren könne. Als überholt sehen die Wirtschaftsvertreter und ihre Leute im Parlament an, dass das bestehende Recht vor allem den Beschäftigten schütze. Dies gelte insbesondere für Entlassungen, die im Prinzip nur mit Einwilligung des Betroffenen möglich seien. Selbst wenn ein Arbeiter betrunken oder gar nicht am Arbeitsplatz erscheine, bemühen die Kritiker das klassenspezifische Klischee, sei es äußerst schwierig, ihn loszuwerden.

Im übrigen ist der ukrainischen Koalition aufgefallen, dass das bestehende Arbeitsgesetzbuch strikte Höchstgrenzen für die Arbeitszeit festlegt. Während nach geltendem ukrainischem Recht die Wochenarbeitszeit 40 Stunden beträgt und Beschäftigte einen Anspruch auf zusammenhängende Freizeit von 48 Stunden pro Woche haben, verlangt die Arbeitszeitrichtlinie der EU nur 24 Stunden zusammenhängende Freizeit und erlaubt eine Arbeitswoche von 48 Stunden mit der Option, sie vorübergehend auf 60 Stunden auszudehnen. Für Mütter und Schwangere ist nach dem alten Gesetz Schichtarbeit nur mit Zustimmung der Betroffenen zulässig, die EU-Richtlinie spart dieses Thema aus, erlaubt also alles, was im Betrieb »frei vereinbart« wird. Es liegen weitere Beispiele dafür vor. Das macht deutlich, dass der propagandistisch verkündete Marsch Richtung »Europa« für »Arbeitnehmer« nichts Gutes bedeutet.

Michail Wolynez, Chef des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes KPVU, fasste die Zielsetzung der Reform in den Worten zusammen: »Die wollen im Interesse des Investitionsklimas die ukrainischen Arbeiter zu Sklaven machen«. Das ist zwar insofern übertrieben, als der ökonomische Nachteil der Sklaverei gegenüber der Lohnarbeit ja gerade darin besteht, dass der Sklavenhalter sein menschliches Inventar auch dann ernähren muss, wenn es ihm nichts einbringt. Unübersehbar aber ist, dass das Gesetz eine deutliche Verschiebung der Verhandlungsmacht auf die Unternehmerseite beabsichtigt

Eine indirekte Absicht der beiden Novellierungen ist es, die Schattenwirtschaft in der Ukraine zu bekämpfen. Denn in der Praxis ist es nicht so, dass die Beschäftigten eine von sozialistischem Arbeitsrecht garantierte ruhige Kugel schieben. Rund die Hälfte der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung wird nach Statistiken des Wirtschaftsministeriums in der »informellen Ökonomie« erzielt. Dort gelten überhaupt keine Verträge, weil sie ohnehin nicht einklagbar wären. Zweit- und Drittjobs sind an der Tagesordnung, und selbst bei offiziellen Arbeitsverhältnissen ist es nicht unüblich, dass der Unternehmer auf dem Papier nur den Mindestlohn zahlt, um Sozialabgaben zu sparen. Zusätzliche Lohnbestandteile bekommen der oder die Beschäftigte »im Umschlag« – je nach Ermessen und Geschäftslage. Das Paket aus Registrierungs- und Arbeitsgesetz soll dem ukrainischen Unternehmertum offenbar das Auftauchen aus der Schattenwirtschaft dadurch versüßen, dass eine breite Palette unternehmerischer Klasseninteressen in Gesetzesform gegossen wird. Es läuft darauf hinaus, das unter dem Einfluss der Schattenwirtschaft ohnehin in der Praxis zu Lasten der Beschäftigten verschobene Kräfteverhältnis ganz offiziell in dieser Form zu fixieren.