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Editorial
Unter dem Joch des totalen Marktes haben die Menschen einen Grad an Selbstentfremdung erreicht, der viele die zunehmend realistische Aussicht auf ökozidale Auslöschung als Hochgenuss verheißendes Spektakel wahrnehmen lässt. Horror-Climate-Fiction und andere kulturindustriell produzierte Dystopien lassen die Kassen klingeln. Manche leugnen einfach die Gefahr (darunter auch verirrte Linke, die dem Fichte’schen Idealismus verfallen sind, sich als Kontrahenten der Natur und diese als bloßen Materiallieferanten zu betrachten) und vertrauen auf den Mythos des grenzenlosen Wachstums – nicht selten in der Wahnvollstellung gipfelnd, man könne ohne Natur leben. Wozu noch Apfelbäume, wenn man doch Steve Jobs’ »Apple Park« im Silicon Valley hat?
Und dass ausgerechnet als Anwälte der Natur daherkommende Spitzenpolitiker der Grünen – wie es von ihnen als Verfechtern eines neoliberalen »Green New Deal« zu erwarten war – ihre Wähler veräppeln, indem sie in ihren Reden vor allem vor den Bossen der Klimakiller-Industrie beteuern, sie hätten weitaus weniger Interesse, »irgendwelche Pinguine und Eisbären zu schützen«, als den Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfähig zu halten, ist freilich perfekt für die ökonomischen Eliten und ihre Günstlinge. Aus dieser komfortablen Position heraus können sie weiter in Ländern wie Bolivien und Venezuela Putsche anzetteln, um sich die letzten Naturressourcen für ihr Überleben in Wohlstand und Luxus als das glückliche eine Prozent unter den Nagel zu reißen.
Die Erkenntnis, dass dem Klimawandel nicht mit bürgerlicher Kälte und der Ökonomie beizukommen ist, die ihn durch Verdinglichung allen Lebens im Verwertungsprozess unentwegt produziert, war schon in den Werken von Marx und Engels angelegt. Beide gelten unter fortschrittlichen Kräften aus guten Gründen als erste moderne Ökologen, die den Weg zur nun nicht mehr aufschiebbaren Versöhnung des Menschen mit der Natur gewiesen haben.
Entsprechend ist es für die M&R-Redaktion eine besondere Freude, dass in dieser Ausgabe zwei der bedeutendsten Ökosozialisten unserer Gegenwart vertreten sind: John Bellamy Foster, der mit Marx‘ ökologischer Systemanalyse immer wieder auf den vom Kapitalismus verursachten »unheilbaren Riss im Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft« hinweist, und Andreas Malm. Letzterer hat uns in einem ausführlichen Gespräch erklärt, warum die Natur so dringlich wie nie auf die Revolution wartet und wir an einem welthistorischen Scheideweg angelangt sind: Entweder geraten wir jetzt »angemessen in Panik« und formieren die »kämpferischste und unerschütterlichste Opposition« gegen den alles, was noch auf diesem Planeten atmet, kreucht und fleucht, sprießt und gedeiht, verschlingenden Kapitalismus und seine brutale Klassenherrschaft, oder wir werden bald sehen, »wie alles den Bach runtergeht«.
Der Philosoph Friedrich Schelling hatte vor mehr als 200 Jahren angemerkt, dass die Natur mit dem Menschen ihre Augen aufgeschlagen hat, sie von ihrer Blindheit erlöst wurde und sich selbst betrachtet. Aber statt ihrer Schönheit nicht nur als Lebensraum, der uns alle ernährt, bekommt sie hungernde Menschen in verwüsteten Landschaften, vermüllte Meere, in Buschfeuern verbrennende Koalas und das Grauen der Tierfabriken zu sehen – wie lange kann sie noch den Anblick ihrer eigenen Vernichtung ertragen?
Liebe Leser, es ist noch nicht zu spät, aber höchste Zeit, gemeinsam alles zu tun, damit die Natur ihre Augen nicht wieder, und dann für immer, schließen muss.
Susann Witt-Stahl
Chefredakteurin M&R