Quelle: http://www.jungewelt.de/2016/11-26/064.php
Ausharren zwischen Krieg und Frieden in der »Volksrepublik Lugansk«. Für die Kämpfer des »Geister-Bataillons« gilt ihr Grundsatz »¡No Pasarán!«
Von Susann Witt-Stahl
Sturmgewehre, Pistolen und eine Sanitätsausrüstung liegen immer griffbereit in ihrem kleinen Wohnzimmer. Eine Schlafecke mit Wandteppich, Vorhänge, ein Herd und ein Esstisch − der 33jährige Russe »Kutja«, so sein Kampfname, und Katja, »Cat«, haben es sich so gemütlich wie möglich eingerichtet in dem alten Schulgebäude in Donezkij. Hier in der nur noch 800 Einwohner zählenden Ortschaft im Nordwesten der Volksrepublik Lugansk (LNR), knapp zehn Kilometer von seinem Stab in der Kleinstadt Kirowsk entfernt, unterhält das »Geister-Bataillon« Prisrak seinen größten Frontposten.
In den ehemaligen Klassenzimmern gibt es spartanisch eingerichtete Schlafsäle und eine Kantine für alle Kämpfer, die sich ihr Essen nicht selbst zubereiten. Bei Cat und ihrem Mann kommen heute abend Nudeln, ein Gemüsesalat und ein Püree aus roter Beete auf den Tisch. Das bisschen, was sie haben, teilen sie gern mit Besuchern. »Ich bin nicht die beste Schützin, aber ich kann medizinische Hilfe leisten«, sagt die gelernte Verkäuferin aus Kirowsk, die nach Kriegsbeginn zunächst in einem Krankenhaus gearbeitet, sich dann aber für den Eintritt in die Volksmilizen entschieden hat. »Mein Kind war total verstört, als die Ukrainer kamen und einfach auf uns geschossen haben. Natürlich habe ich Angst, wenn die Granaten neben mir einschlagen«, antwortet die 26jährige auf die Frage, was eine junge Mutter an so einem gefährlichen Ort zu suchen hat. »Sie einfach durchzulassen − das ist doch keine Lösung. Kiew muss endlich begreifen: Hier gibt es keine Terroristen, sondern nur Leute, die in Ruhe leben wollen.«
Während im Hintergrund »Sajaz Scharennyj Po-Berlinski« (Hase nach Berliner Art) auf dem PC läuft, eine russische Zweite-Weltkriegs-Filmkomödie, in der alle Deutschen mit rollendem Hitler-R sprechen, zeigt Kutja, der aus Saratow an der Wolga stammt und bereits im Tschetschenien-Krieg gekämpft hatte, auf seinem Smartphone Bilder von einem blutüberströmten ukrainischen Soldaten: »Er tauchte aus dem Nichts auf, ballerte um sich und verwundete zwei meiner Kameraden.« Hatte sich der Ukrainer verirrt? »Wir konnten ihn nicht mehr fragen. Unsere Leute haben das Feuer erwidert und ihn erschossen«, erzählt der 33jährige Zugführer mit versteinerter Miene. »So etwas macht keine Freude – ich bin nicht hierhergekommen, um zu töten.« Sein größter Wunsch: »Endlich den Krieg hinter sich lassen und dann ein richtiges Familienleben haben«, sagt er, bevor er sich seiner Gitarre widmet.
Musik bedeutet den Soldaten sehr viel. Darüber kommen Trauer, Heimweh, Melancholie zum Ausdruck – Gefühle, die im harten Frontalltag vom Allerwichtigsten, dem Überleben, ablenken können und ständig unterdrückt werden (müssen). Im Gemeinschaftsraum dröhnt »Kukuschka« (Der Kuckuck) aus einem MP3-Player: »Daliegen wie ein Stein oder leuchten wie ein Stern?« heißt es in dem Lied von dem berühmten sowjetischen Rockpoeten Wiktor Robertowitsch Zoi aus den 1980er Jahren, das durch die Interpretation der russischen Sängerin Polina Gagarina 2002 zum Megahit geworden ist. Die Antwort − »Wie ein Stern. Meine Sonne, schau mich an, meine flache Hand hat sich in eine Faust verwandelt. Und wenn es Schießpulver gibt, eröffne das Feuer« − entspricht der Stimmungslage vieler Prisrak-Kämpfer.
Auch ihr Vizekommandeur Alexej Markow, der zugleich oberster Politkommissar der Dobrowoltscheskij Kommunistitscheskij Otrjad (Kommunistische Freiwilligeneinheit, DKO) ist – sie hatte sich dem Bataillon im November 2014 angeschlossen und zählt einige Dutzend Mitglieder −, glaubt nicht, dass eine friedliche Verständigung in naher Zukunft möglich ist. »Es ist nicht die Zeit für Diskussionen«, konstatiert er mit düsterem Blick. »Die Faschisierung der Ukraine hat nicht nur zu einer absoluten Entfremdung gegenüber der russischen Bevölkerung geführt. Die neuen Machthaber bezeichnen die Bewohner des Donbass als ›Orks‹, als nichtmenschliche Wesen. Sich selbst hingegen nehmen sie als eine Art Elfen wahr, die die ›barbarischen Horden‹ aus dem Südosten vernichten müssen.« Dafür habe Präsident Petro Poroschenko seinen Militärs »Carte blanche gegeben«, meint der 46jährige Moskowiter. Er nennt Beispiele schwerer Misshandlungen von Aufständischen in ukrainischer Kriegsgefangenschaft. »Sie haben sie zusammengeschlagen und ihnen Symbole in die Haut geritzt.« Markow hält seine Kämpfer an, sich niemals von Hass und dem Wunsch nach Rache leiten zu lassen. »Die Ukrainer sind nicht unsere Feinde, sondern Menschen, die der Nationalismus krank gemacht hat und denen wir helfen müssen, sich selbst zu heilen.« Das gelte es für alle zu begreifen, die die Logik des Faschismus vollständig brechen wollen.
Gefährliches Niemandsland
Das Sterben im Donbass geht weiter − auf Raten: Am Morgen ist ein Zivilist auf eine Mine getreten. Eine Straße zu verlassen, über unbefestigte Wege oder einfach nur in die falsche Richtung zu laufen, bedeutet Todesgefahr. Die ukrainischen Stellungen liegen nur etwas mehr als einen Kilometer entfernt. Solide Feuerpausen gibt es bis heute nicht. »Tagsüber, wenn die OSZE-Beobachter unterwegs sind, halten sie sich zurück. Aber kaum ist die Dämmerung angebrochen, schießen sie. Die ukrainischen Freiwilligenbataillone machen am meisten Ärger«, so Markow. »Wir leben in einer Grauzone. Es herrscht kein echter Krieg, aber auch kein Frieden.«
Das grelle Sonnenlicht auf der Fahrt entlang der Frontlinie leuchtet das Panorama der Zerstörung aus: Die zersiebten Eingangstore, die zertrümmerten Dächer vieler Häuser, vor allem die Panzer- und Autowracks auf den Feldern lassen erahnen, wie heftig die Gefechte waren, die bis 2015 auch in den oft nur noch ein paar Seelen zählenden Dörfern nicht weit von den Hauptschlachtfeldern im Donbass, etwa Perwomajsk, getobt haben.
Die meisten Straßen sind nur mit Geländewagen oder im Schrittempo befahrbar. Das Niemandsland jenseits der letzten Stellung am LNR-Frontposten bei Frunse kann nur zu Fuß erkundet werden. Und auch das nur kurz: »Wir dürfen sie nicht nervös machen«, warnt Markow und zeigt in Richtung einer Flagge des »Rechten Sektors«, die die einige hundert Meter nördlich gelegenen ukrainischen Positionen markiert. Überall stecken Mörser, Raketen und Unmengen anderer Geschosse im Boden, ein Teil davon ist noch gar nicht detoniert; Schrapnell hat tiefe Furchen in die Fahrbahn einer asphaltierten Kreuzung gefräst.
Die langen Laufgräben und Unterstände der Stellungen erinnern an Erste-Weltkriegs-Schauplätze. Heiligenbilder an Sandsackscharten und russische Fahnen an Uniformen bezeugen, dass ein Dasein ohne Gott und Nation längst noch nicht für alle hier ein erstrebenswerter Zustand ist. Allerdings haben die Kämpfer heute nicht mehr Angriffe mit aufgepflanztem Bajonett zu fürchten, sondern Sniper, die rund um die Uhr auf der Lauer liegen und deren Präzisionsgewehre Ziele in mehr als einem Kilometer Entfernung treffen können. »Einer unserer Kameraden brach, von einer Kugel getroffen, zusammen. Seine Frau, die an seiner Seite war, musste mit ansehen, wie er starb«, berichtet »Nemo«, ein italienischer Antifaschist, der in der von Internationalisten 2015 gegründeten und in Prisrak eingegliederten »Interunit« organisiert ist, am weiter westlich gelegenen Außenposten Gulden.
Im Gegensatz zu den meisten einheimischen Kämpfern begegnen Nemo und seine sieben Genossen, die aus Spanien, Frankreich, Polen, Finnland und Syrien gekommen sind, dem Traum von Noworossija, den vereinigten unabhängigen Volksrepubliken von Lugansk und Donezk, nicht ohne Skepsis (erst recht nicht sehen sie deren Heil im Anschluss an Russland). Es fehle eine schlagkräftige kommunistische Bewegung, findet Nemo. »Die KP der Ukraine hat eine historische Chance verpasst.« Sie habe zwar 2014 die Volksfront im Donbass gegen die Putschisten in Kiew maßgeblich organisiert. Dann sei ihre Führung aber nicht bereit gewesen, den nächsten Schritt zu gehen und sich an die Spitze des Aufstands zu setzen, den die Bevölkerung wagte, als sie Kasernen und Polizeistationen stürmte. »Während die Menschen sich bewaffnet und Schützengräben ausgehoben haben, blieben die KPU-Abgeordneten sitzen und haben abgewartet«, ergänzt »Wankor«, ein ukrainischer DKO-Kämpfer. Das Ergebnis seien Volksrepubliken, in deren Institutionen kaum Kommunisten vertreten sind.
Sache der Mehrheit
Aber für eine politische Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit bleibt selten Zeit. Das Leben an den mitten in der freien Natur gelegenen Außenposten ist hart. Im Winter sind schon mal Temperaturen von minus 30 Grad auszuhalten. Schwer ohne Strom und fließendes Wasser. Oft hält nur die Alltagssatire bei Laune, die unweigerlich entsteht, wo Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen gemeinsam abrupt abwechselnd Extremstress und gähnende Langweile bewältigen müssen. Wenn ein Italiener die Zubereitung der Makkaroni durch seine russischen Genossen als »Kriegsverbrechen« anprangert, dann erinnert das an die meisterhafte Zuspitzung nationaler Stereotypen in Goscinnys und Uderzos »Asterix als Legionär«.
Mindestens so wichtig wie gute internationale Beziehungen innerhalb des Bataillons ist die Kooperation mit der größtenteils armen Bevölkerung in den benachbarten Dörfern. Da die Versorgungslage der Soldaten besser ist als die vieler Zivilisten, die Kämpfer aber keine Almosen verteilen wollen, sind kreative Hilfsmaßnahmen gefragt: »Wir organisieren manchmal ein Fußballspiel mit den Leuten in den nächstgelegenen Ortschaften. Die Siegprämie sind Lebensmittel. Wir sind lausige Kicker und verlieren immer«, erklärt ein internationaler Freiwilliger.
Solche Charmeoffensiven sind aber nur ein Grund für die überall wahrnehmbare Solidarität, die die bewaffneten Aufständischen vom Gros der Donbass-Bewohner erfahren. Entscheidend ist wohl eher, dass diejenigen, die hinter Kiew stehen oder den Volkrepubliken nicht trauen, die Region bereits 2014 in Richtung Westen oder Russland verlassen haben. Die Mehrheit, die geblieben ist (ebenso Hunderttausende, die inzwischen zurückgekehrt sind, weil sie unter der Knute der neoliberalen Spardiktate in der Ukraine nicht existieren können oder in Russland keine Arbeit gefunden haben), verabscheut besonders die von EU und NATO gestützten Oligarchen, die sich wie Eroberer aufführen und die faschistischen Paramilitärs finanzieren. Viele Menschen, die auf von Kiew kontrolliertem Gebiet leben, sehen Poroschenkos Truppen seit deren Artillerieangriffen auf Wohngebiete nur noch als Besatzer. Nicht selten würden Zivilisten ukrainische Positionen heimlich auskundschaften und die Volksmilizen mit Informationen versorgen, berichtet ein Prisrak-Kämpfer. »Aus Angst vor Sabotage meiden die Ukrainer mittlerweile die Dörfer.«
Zumindest diesseits der »Kontaktlinie« ist die Wut im Alltag deutlich spürbar: »Poroschenko gehört auf die Anklagebank, denn er hat im Fleischwolf von Debalzewe unseren Nachwuchs unter die Erde gebracht«, schimpft ein Taxiunternehmer – einst hat er als auf Hydraulikreparaturen spezialisierter Facharbeiter gutes Geld verdient −, während er die Unmengen von Schlaglöchern auf der Straße nach Kirowsk im eleganten Slalom meistert. Die Kämpfe um die Stadt im Januar und Februar 2015 waren die blutigsten in diesem Krieg. Auch wenn er mit Ungewissheit in die Zukunft blickt, weil die LNR-Regierung »alte Fehler wiederholt, wie sie Gorbatschow bereits begangen hat«, eines betrachtet er als beschlossene Sache: »Für uns hier gibt es kein Zurück nach Kiew.«
Der harte Kern
Im Prisrak-Stützpunkt in Kirowsk wird das nicht anders gesehen. An erfolgreiche Bemühungen der Normandie-Gruppe – mit Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine – will hier niemand glauben. »Die USA wollen den Frieden nicht«, meint Stabschef Sergej Wadimowitsch Kilin, ein Kasache und Bewunderer von Sarah Wagenknecht, die hier »wegen ihres großen Mutes«, sich für eine Verständigung mit Russland einzusetzen, eine Menge Sympathie genießt. »Früher oder später wird dieser Konflikt wieder zu einem heißen Krieg ausgeweitet.«
Dafür wappnet die LNR-Regierung ihre Truppen. Im Frühjahr wurde Prisrak als letzte große Freiwilligeneinheit in die Armee der Volksrepublik eingegliedert, von einer Brigade zum Bataillon eingedampft und durch die Einführung militärischer Disziplin- und Sicherheitsstandards professionalisiert − Maßnahmen, die auf ein geteiltes Echo stoßen. Einige Kämpfer wollten das nicht zuletzt durch ihren ehemaligen, als »Che Guevara des Donbass« verehrten und im Mai 2015 ermordeten Anführer Alexej Mosgowoi (die Bluttat ist bis heute nicht aufgeklärt) zur Legende gewordene »Gespenster-Bataillon« als sozialistische Volkswehr gegen die Oligarchie stark machen. Sie fürchten nun, dass von der Hoffnung auf eine Umverteilung von oben nach unten kaum mehr übrigbleiben könnte als das Denkmal, das Mosgowoi in der Nähe ihres ehemaligen Hauptquartiers in Altschewsk (gegen den heftigen Widerstand der LNR-Regierung) gesetzt wurde.
Aber auch die Vorteile eines geregelten Wehrdienstes werden geschätzt: Jeder Soldat erhält mittlerweile einen Sold von 15.000 Rubel (ca. 210 Euro) monatlich – das liegt über dem Durchschnittslohn, den ein Arbeiter in dieser Region nach Hause bringt − und eine solide Grundausbildung: »Die Hauptsache ist, dass die Kämpfer am Leben bleiben. Dafür brauchen sie ein gutes Training«, sagt Alexej Markow beim abendlichen Gespräch in seinem Büro. Die Galerie im benachbarten Empfangsraum mit den vielen Fotos der in dem bald drei Jahre dauernden Konflikt getöteten Angehörigen des Bataillons erinnert an die Verantwortung, die zukünftig vor allem Markow zu tragen haben wird – er wurde gerade zum neuen Kommandeur von Prisrak ernannt.
»Sicher war das Leben hier vor Minsk II spannender. Aber auch kürzer«, kommentiert er die Entscheidung einiger Kämpfer, das Bataillon zu verlassen. Diese hätten den zermürbenden Aufenthalt in der Warteschleife zwischen Krieg und Frieden nicht mehr ertragen. »Der harte Kern ist geblieben«, sagt Markow. »Jetzt heißt es ausharren.« Diese Haltung vertreten auch die in Interunit organisierten Internationalisten, die vorwiegend der antifaschistische Imperativ »¡No Pasarán!« zu Prisrak geführt hat. »Wenn wir aufgeben, wird die Rechtsentwicklung ungebremst Europa durchdringen«, bringt einer von ihnen eine Meinung auf den Punkt, die immer wieder aus ihren Reihen zu vernehmen ist. »Für uns ist der Krieg erst zu Ende, wenn die Faschisten aus Kiew verschwunden sind.«