Folgendes Flugblatt wurde am 1. Mai 2012 in Zürich verteilt:
„Auch die Natur wartet auf die Revolution“ (Herbert Marcuse)
Den ersten Mai ohne seine Geschichte zu feiern, würde die Ausblendung dessen bedeuten, warum wir heute hier sind. Es ist und bleibt uns bewusst, dass dieser Tag, in Gedenken an den Justizmord an mehreren anarchistischen Mitorganisatoren eines Arbeiterstreiks Anfang Mai 1886 in Chicago, in der Tradition und im Selbstverständnis steht, für ein menschenwürdiges Leben zu kämpfen. Denn damals wie heute untergraben die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die lohnabhängigen Menschen.
In einer Rede vor Tausenden von Zuhörern rügte August Spies, Herausgeber der sozialistischen Arbeiter-Zeitung in Chicago, einen Tag vor dem ersten Mai 1886 die unsäglichen Fabrikzustände, indem er mehrmals wiederholte: „Man kann nicht ewig wie ein Stück Vieh leben!“ Ein Satz, der uns wiederum auf Marx verweisen könnte, welcher bereits vor 150 Jahren erkannt hat, dass nicht nur die entfremdete Arbeit Reichtum erzeugt, sondern auch die Untergrabung der Erde. (MEW 23, S. 530) Dazu gehört auch die Ausbeutung der Tiere, welche bis heute eine Quelle der Gebrauchswerte sind und/oder diese zu produzieren haben.
Selbst innerhalb der Linken wird immer wieder in anthropozentrischer – und bibeltreuer – Manier suggeriert und gerechtfertigt, dass Natur und Tiere, als blosse Ressource, nur zu menschlichen Zwecken bestehen. Mit solch radikal instrumentell gewordenen Belangen spielt man den KapitalistInnen geradezu in die Hände, welche den gesellschaftlichen Zustand des Mensch-Natur /Tier-Machtverhältnisses genauso als natürlich legitimieren. Dabei handelt es sich bei diesem Verhältnis aber keineswegs um eine ewige Wahrheit (als wenn es so etwas wie einen Naturzustand der Gesellschaft gäbe), sondern um eine Wirkung eines historisch entstandenen – und somit überwindbaren – gesellschaftlichen Prozesses. Dieser vollzieht sich in der Geschichte einer missglückten Zivilisation, welche ein Beleg dafür ist, dass die Unterjochung der Natur – und mit ihr die der Tiere – die Herrschaft des Menschen über den Menschen auf die Spitze treibt. Weil der Mensch immer auch Naturwesen ist, schlägt die Naturbeherrschung um in die Beherrschung über andere Menschen und über sich selbst. Den Herren sind die Sklaven blosse Tiere, die es genauso zu beherrschen gilt, wie das eigene Tier-Sein.
Herrschaft wird somit zum Prinzip aller Beziehungen – sowohl derer zu innerer und äusserer Natur, wie auch der menschlichen und nichtmenschlichen. Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden, Ideen also, welche uns von der restlichen Natur unterscheiden, verkommen zu nicht und nie gelebter Wirklichkeit. Empathie, die Fähigkeit das Leiden anderer Menschen und der Tiere nachzuempfinden, muss in „patriarchal zweckvoller Härte“ (Adorno/Horkheimer) unterdrückt werden, damit wir im ökonomischen Konkurrenzkampf, ganz nach der kapitalistischen Logik, (über)lebensfähig bleiben können. Die Tragik der menschlichen Zivilisation besteht bis heute darin, dass sie den natürlichen Zustand von fressen und gefressen werden in ihrer totalitären Ökonomie schon fast verewigt hat, indem sie das Prinzip von Unterwerfung, Ausbeutung und Zerstörung tagtäglich reproduziert und legitimiert. Doch die Ausbeutung des Menschen und die Vernichtung der Tiere, welche durch Naturbeherrschung miteinander verflochten sind, könnten zukünftig aus der Zivilisation verbannt werden, wenn der Mensch bereit ist, autonome Vernunft in seine Geschichte, die bis anhin die Geschichte der Klassenkämpfe ist, zu lassen.
Anders als uns weisgemacht werden will, bedeuten die neoliberale Durchprivatisierung und die profitstrebenden ökonomischen Bedingungen nichts anderes, als die Prekarisierung unserer Lebensumstände. Dabei fällt die immer schärfer werdende Ausbeutung des Menschen in den Lebens-, Wohn- und Arbeitsverhältnissen zusammen mit den modernen Zurichtungsmethoden der Tiere und der unweigerlichen Zerstörung der Natur und ihrer Ökosysteme. Um mit diesen Tatsachen zu brechen, brauchen wir weder einen Bio-Label-Alternativwirtschaftszweig oder einen grünen Anstrich des Kapitalismus als Ganzes, noch können wir die technologischen Entwicklungen, wie zum Beispiel im Bereich der Nanotechnologie, ungebrochen fortsetzen. Vielmehr müssen wir uns daran erinnern, dass nur durch die Überwindung des Diktats des Kapitals die Möglichkeit geschaffen wird, uns qualitativ in noch nie dagewesene gegenseitige Beziehungen zwischen Mensch, Tier und Natur zu bringen. Dabei handelt es sich um einen dialektischen Prozess, in welchem die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise auch eine Umwälzung des Verhältnisses der Gesellschaft zur Natur beinhalten muss. Denn wieso sonst, wenn nicht zur Überwindung der Herrschaftsgesellschaft als Ganzes, sollten wir die Revolution wollen? Wieso sonst, wenn nicht zur Versöhnung von Mensch und Tier, also von Vernunft und Natur? Wieso sonst, wenn nicht, damit keiner dem Anderen mehr Leid und Gewalt zufügen muss, so dass man ohne Angst zu haben anders sein kann? Wieso sonst, wenn nicht, um mit einer „neuen Sinnlichkeit“ der Welt gegenüberzutreten, statt mit derjenigen, zu der „die Ordnung und Organisationsstruktur der Klassengesellschaft“ (Marcuse) uns zwingt?
Der erste Tag im Mai ist der Tag, an dem breit über alte und neue Klassenfragen reflektiert wird. Wir nehmen uns an diesem Tag den öffentlichen Raum, weil wir uns der Macht- und Produktionsverhältnisse bewusst sind und daher den unvermeidbaren Kampf zwischen den Klassen ans Tageslicht befördern wollen. Weder lassen wir uns mit Repression vertreiben, noch lassen wir uns die letzten (solidarischen) Lebensmöglichkeiten zu Grunde richten und genauso nehmen wir auch die globale ökologische Zerstörung nicht mehr länger hin. Die Kriege, der Hunger, die Wohnsituation, die Atomkatastrophen oder die alltägliche Vernichtung und Ermordung von Millionen von Tieren – all dies sind Klassenfragen.
„Meine Nahrung ist nicht die der Menschen.
Ich vernichte nicht Lamm und Kitz, um meinen Appetit zu stillen. […]
Das Bild das ich euch zeichne, ist friedlich und menschlich.“
Frankensteins Monster
Die Entscheidung, vegan zu leben und politisch zu kämpfen, ist ein Versuch der Individuen sich die Geschichte bewusst anzueignen. Der Veganismus manifestiert dabei die Absage an die patriarchale Weltordnung, in welcher Brutalität, Gewalt, Zerstörung und der Krieg gegen Mensch und Tier alltäglich sind. Besinnliche Einschränkung und Mässigung durch ethisch-moralische Verantwortung ist jedoch zu wenig. Wir müssen uns von unserem destruktiven Umgang mit der Natur befreien und dieser Befreiung steht der Kapitalismus unausweichlich im Weg. Für die Befreiung der Tiere und der Natur zu kämpfen, ist Teil des Klassenkampfes. Die Linke nimmt dies nur zögerlich hin, doch die Herrschenden haben es längst verstanden. Sie kennen die politische Praxis der Tierbefreiungs- und Umweltbewegung nur zu gut und wissen, dass diese den Kapitalismus immer wieder mitten ins Herz trifft.
Doch weil es diesen beiden Bewegungen immer wieder erfolgreich gelingt, das Fundament der systematischen Ausbeutung und der Herrschaft anzugreifen, sind ihre Akteure seit Jahren im Kreuzfeuer der Lobbyorganisationen der Unternehmen und der staatlichen Behörden. Nicht selten werden neuste repressive Mittel, egal ob spezifisch zugeschnittene Gesetze oder (technische) Überwachungsmöglichkeiten, zuerst an GenossInnen und AktivistInnen der Tierbefreiungs- oder Umweltbewegung vollzogen, um sie später auch auf andere sozialen Bewegungen auszuweiten.
– Der 1992 eingeführte Animal Enterprise Protection Act in den USA wird 2006 zum Animal Enterprise Terrorism Act und wesentlich in seinem Inhalt verschärft. („Diese Leute [in Tierschutzorganisationen] sind in terroristischen Zellen organisiert, die unabhängig voneinander arbeiten“. GlaxoSmithKline Lobbyist im US Kongress.)
– 1995 und 1997 verabschiedete Grossbritannien Gesetze gegen zivilen Ungehorsam wie z.B. „aggravated trespass“, welcher Besitzstörung, die mit dem Ziel gesetzt wurde, eine legale Wirtschaftstätigkeit (z.B. Pelzhandel, Pharmaindustrie etc.) zu behindern, kriminalisiert und unter extrem hohe Strafdrohung und Vorstrafe stellt.
2005 drohten Wirtschaftslobbys dem damaligen Premierminister, sie würden ihre Tierindustrien aus England abziehen, wenn England nicht härter gegen TierrechtsaktivistInnen vorgehen würde. Tony Blair eröffnete danach, drastische Sanktionen und neue Sonderparagraphen gegen diese einzuführen und garantierte damit, die Aktivitäten der Tierrechtsbewegung signifikant zu reduzieren.
– Unter dem 1993 eingeführten Organisationsparagraphen 278a wurde in Österreich im Jahr 2010 einer der grössten Prozesse in der Geschichte des Landes gegen 13 TierbefreiungsaktivistInnen geführt, welcher über ein Jahr lang dauerte.
– In der Schweiz geht der Nachrichtendienst seit 2006 in seinem Rechenschaftsbericht jährlich auf den „gewalttätigen Tierschutz“ oder den „Tierrechtsextremismus“ ein und gründete 2009 innerhalb der Bundespolizei eine Arbeitsgruppe „zur Unterstützung der Bekämpfung“ dieser Bewegung.
– 2008 hat EUROPOL die Ökologiebewegung in mehreren europäischen Ländern erstmals als „terroristische Gefahr“ eingestuft.
Die Ironie, welche hinter diesen Massnahmen und dieser Hetze steckt, liegt darin, dass sie genau dann auftreten, wenn eigentlich jeder von sich behauptet, ein/e Umwelt- oder TierschützerIn zu sein. Alle halten sich für „grün“ und Umweltfragen finden im individuellen Lifestyle einen grösseren Rückhalt als je zuvor. Dies ist auch den WirtschaftsträgerInnen und PolitikerInnen nicht entgangen. Die ökologische Modernisierung des Kapitalismus schafft neue Profiteure und neue Märkte, welche enorme Profite erzielen, indem sie im Zuge der Umstellung der Energieproduktion und der Inwertnahme der Natur, bis hin in den Nanobereich, aus Geld immer mehr Geld machen. Neben der Vermarktung von innovativen und „grünen“ Produkten, wird auf der anderen Seite aber auch ein Paradigma der Angst verbreitet, indem AktivistInnen als „Tierrechts-Extremisten“ oder „Öko-Terroristen“ gebrandmarkt werden.
Die Tierbefreiungs- und die Ökologiebewegung vereinen in ihrer politischen Agenda fundamentale Ansatzpunkte der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und beide dieser Bewegungen haben weltweit grossen Zulauf. Dass sie dabei durch ihr aktionistisches und politisches Handeln auf massive Repression der Staatsgewalt stossen, liegt in Anbetracht der Interessen der herrschenden Klasse nahe. In Europa und den USA wurden in den letzten 20 Jahren speziell auf diese Bewegungen zugeschnittene Gesetze erlassen und was einst in der westlichen Welt in den Kommunisten gesehen wurde, wird heute im weitesten Sinne in der Umwelt- und Tierbefreiungsbewegung gesehen. Was die rote Gefahr (Red Scare) der MacCarthy Ära war, ist heute die grüne Gefahr (Green Scare) der neoliberalen Elite im Krieg gegen den Terrorismus (War on terror).
Ein neuster Gesetzesentwurf in den USA sieht vor, TierbefreiungsaktivistInnen wie gefangengenommene feindliche Kämpfer (Enemy Combatants) aus dem Krieg gegen den Terror behandeln zu können. Konkret heisst dies, dass TierbefreiungsaktivistInnen offiziell als „Terroristen“ unter Anwendung des Feindesstrafrechts von einem Militärgericht verurteilt werden können. Die Grenzen kriegerischen Feldzugs im Ausland und polizeilicher Operationen im Inland lösen sich faktisch auf und das Kriegsgebiet im eigenen Territorium wird zum Freipass für den noch nicht ganz offiziell gewordenen permanenten „Ausnahmezustand als Paradigma des Regierens“ (Agamben).
Nicht nur traditionell rechte und bürgerliche, sondern vor allem die linken Parteien und auch Gewerkschaften, driften national und international seit einigen Jahren verstärkt nach rechts. Diese gesellschaftliche Verschiebung resultiert in der Zunahme des staatlichen (und auch privaten) Sicherheits- und Überwachungsapparats mit neuem Repressionspotential. Der Grüne Polizeivorsteher Daniel Leupi zeigte dies am 1.Mai 2011 in Zürich, als er die Verhaftung von über 500 Leuten billigte und den Stadtkreis 4 rund um den Helvetiaplatz zur Sperrzone machte. Daran stossen sich weder die parlamentarischen Linken noch die Gewerkschaften. Diese fahren lieber einen heuchlerischen Schmusekurs mit den Herrschenden, indem sie beispielsweise die damalige Bundespräsidentin an den 1. Mai 2011 eingeladen und bejubelt haben.
Solche Praktiken dienen vor allem einem Ziel: Neoliberale Politik auf allen Ebenen durchzusetzen! Wer sich dem nicht fügt, ja sich sogar wehrt, wird kriminalisiert. Betroffen sind dabei alle, welche im Kollektiv sozialer Bewegungen, in autonomen Strukturen, BesetzerInnenzusammenhängen, MigrantInnen – und Flüchtlingsorganisationen, im Arbeitskampf oder auch als Einzelne Widerstand leisten – vor allem aber diejenigen, die nach einer ganz anderen Gesellschaft freier und mit Tier und Natur versöhnter Menschen streben.
Da die Beherrschung von Mensch und Tier miteinander verknüpft ist, können auch die Kämpfe zu ihrer Befreiung nicht voneinander getrennt werden. Wir verstehen das Engagement für die Befreiung der Tiere deshalb als wesentlicher Bestandteil des sozialen Kampfes für eine freie und menschliche Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, ohne Klassenteilungen und Herrschaft. Eine Gesellschaft, in der Schlachtfelder ebenso der finsteren Vergangenheit angehören wie Schlachthöfe.
Für die Befreiung von Mensch, Tier und Natur!
Tierbefreiungsbündnis Zitronenfalter
Der Name des Bündnisses bezieht sich auf eine Passage eines 1917 von Rosa Luxemburg geschriebenen Briefes aus dem Gefängnis, in welcher deutlich wird, dass Tiere ihr nicht als blosse Objekte begegneten, sondern im Gegenteil, dass sie Tiere stets als Individuen wahrnahm:
„Gestern, am 1. Mai, begegnete mir – raten Sie wer? – ein strahlender frischer Zitronenfalter!“